„In neun von zehn Fällen ist der neue Netzbetreiber der alte.“

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Was kann der Gesetzgeber tun, um die Rekommunalisierung und Dezentralisierung der Energieversorgung zu unterstützen? BBH-Partner Prof. Dr. Christian Theobald hat vor wenigen Tagen den Deutschen Bundestag bei dessen jüngster Sachverständigenanhörung zu dieser Frage beraten. Jetzt steht Dr. Theobald dem BBH-Blog Rede und Antwort.

Hier Teil 1 des Interviews mit dem Energierechts-Experten:

Herr Dr. Theobald, gegenwärtig läuft die Mehrzahl der auf 20 Jahre vergebene Konzessionen für örtliche Gas- und Stromnetze aus. Überall in Deutschland wird neu ausgeschrieben. Kommt es jetzt zu mehr Wettbewerb um die Verteilnetze?

Jetzt wäre der Moment dafür. Aber solange der gesetzliche Rahmen sich nicht ändert, wird daraus wohl nichts werden. Die Regelung ist lückenhaft und lässt wesentliche Fragen unbeantwortet. Sie ermöglicht den bisherigen Netzbetreibern, die Neuvergabe der Wegenutzungsrechte systematisch zu hintertreiben und jeden Wettbewerb im Keim zu ersticken.

Inwiefern?

Wenn ich mich als Wettbewerber um die Konzession bewerben will, brauche ich Informationen darüber, was auf mich zukommt, wenn ich das Netz übernehme. Dies gilt im Übrigen auch für die Kommune, die möglicherweise selbst daran denkt, den Netzbetrieb zu übernehmen. Wenn ich diese Informationen nicht oder zu spät bekomme, dann werde ich mich lieber nicht bewerben; niemand bewirbt sich ins Blaue hinein. Das heißt: Für den bisherigen Netzbetreiber lohnt es sich, zu mauern und Auskünfte nicht oder nur schleppend zu erteilen. Denn so hält er die Zahl der Mitbewerber gering und steigert seine Aussichten, das Netz zu behalten, und zwar zu attraktiven Bedingungen.

Und das gelingt?

Ja, sehr oft schon. Ich würde schätzen, dass es nur in jedem 10. Konzessionierungsverfahren zu einem tatsächlichen Wechsel des Netzbetreibers kommt. In neun von zehn Fällen ist der neue Netzbetreiber der alte. Häufig sieht das so aus, dass am Anfang des Verfahrens fünf oder sechs Anbieter ernsthaftes Interesse zeigen, aber am Ende trotzdem nur einer übrig bleibt – nämlich, wenig überraschend, der Altkonzessionär.

Wieso ist das die Schuld des Gesetzgebers?

Das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) regelt Beginn und Ende des Konzessionierungsverfahrens und verpflichtet die Kommunen, es transparent und diskriminierungsfrei zu gestalten. Was fehlt, ist eine klare und eindeutige Regelung, welche Rechte die Kommune dabei hat. Es gibt beispielsweise keine unmittelbare gesetzliche Pflicht des Altkonzessionärs, ihr Informationen zur Verfügung zu stellen und sie so in die Lage zu versetzen, anderen potenziellen Bewerbern die Abgabe eines Angebots zu erleichtern oder überhaupt erst möglich zu machen. Für den Wettbewerb ist das alles andere als gut.

Was muss also geschehen?

Der Gesetzgeber muss diese Lücke schließen, und zwar schnell. Das Fenster für mehr Wettbewerb kann sich schon bald wieder schließen.

Das heißt konkret?

Was wir brauchen, ist ein Recht der Kommune, schon vor Beginn des eigentlichen Konzessionierungsverfahrens alle für den Netzbetrieb relevanten Daten zu erfahren; diese Daten würden dann allen Bewerbern zur Verfügung gestellt. Bisher muss die Kommune nur das Ablaufen der Konzession bekannt machen. Das genügt nicht. Denn nur wenn sie die nötigen Daten haben, können die Wettbewerber die Wirtschaftlichkeit der späteren Netzübernahme kalkulieren und ein fundiertes Angebot abgeben, mit der Folge, dass ein wirklicher Wettbewerb um die Konzessionsvergabe entsteht.

Welche Daten sind das genau?

Angaben zum Anlagenbestand genügen nicht, um ein fundiertes Angebot abgeben zu können. Man muss die Anlagen auch ökonomisch bewerten können. Man muss also auch Daten zu den historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten, zu den Abschreibungen und Nutzungsdauern, zu den kalkulatorischen Restwerten, zu vereinnahmten und nicht aufgelösten Ertragszuschüssen, zum Unterhaltungskonzept, zu den Netzentgeltgenehmigungen und den Erlösobergrenzen erhalten.

Gibt es die Pflicht, diese Daten zu übermitteln, nicht ohnehin schon aus Treu und Glauben bzw. als Nebenpflicht?

Das kann man so sehen. Aber das ist umstritten und höchstrichterlich ungeklärt. Und um einen solchen Anspruch gerichtlich durchzukämpfen, braucht man zwei bis drei Jahre. Dann helfen einem die Daten auch nichts mehr. Und einstweiligen Rechtsschutz gewähren die Gerichte hier aus zivilprozessualen Gründen grundsätzlich nicht. Das heißt, praktisch läuft der Anspruch, so er überhaupt besteht, sowieso ins Leere.

Sollte der Gesetzgeber auch diese Lücke stopfen?

Unbedingt. Auch hier brauchen wir eine Klarstellung, dass die Kommunen ihren Auskunftsanspruch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchsetzen können.

Wie sieht es mit der zweiten Phase aus, wenn die Gemeinde ihre Auswahlentscheidung getroffen hat und es um die Übergabe des Netzes geht?

Auch da kann die gesetzliche Regelung nicht so bleiben.

Was ist das Problem?

In § 46 II 2 EnWG heißt es, dass der Altkonzessionär dann dem Neuen seine für den Netzbetrieb „notwendigen Verteilungsanlagen überlassen“ muss, und zwar gegen eine „wirtschaftlich angemessene Vergütung“. Was heißt „überlassen“? Was gehört alles zu den „notwendigen“ Anlagen? Welche Vergütung ist „wirtschaftlich angemessen“? Darüber kann man sich ewig streiten. Außerdem gibt es auch hier keine ausdrückliche Pflicht, dem neuen Netzbetreiber Informationen zu geben.

Um welche Daten geht es hier genau?

In dieser Phase geht es vor allem um die Frage, wie die Erlösobergrenzen aufgeteilt und zugeordnet werden. Der alte Netzbetreiber hat dazu seine beeinflussbaren und nicht beeinflussbaren Kostenanteile nach § 11 ARegV aufgeschlüsselt. Diese Daten sind geprüft, anerkannt und Grundlage für die jährliche Festlegung der Erlösobergrenzen. Der alte Netzbetreiber muss diese Kostenanteile und ihre Zuordnung dem neuen offenlegen und erklären.

Und auch hier gibt es keinen Anspruch des neuen Konzessionärs gegen den alten, ihn zu informieren?

Es gibt ein neues Urteil des Landgerichts (LG) Hannover vom 24.6.2010 (Az. 18 O 260/08), wonach während der Verhandlungen über die Netzübernahme ein solcher Anspruch aus Treu und Glauben besteht. Aber es gibt keine spezialgesetzliche Fixierung dieses Anspruches, und das wäre nötig, um Rechtssicherheit zu schaffen. Zudem muss der Anspruch bereits viel früher fällig sein, d.h. spätestens nach Eingang der Interessensbekundungen bei der Kommune zu Beginn des Konzessionsverfahrens.

Was muss außerdem bei der Regelung zur Netzübergabe anders werden?

Es ist seit langem umstritten, was mit „Überlassen“ des Netzes eigentlich gemeint ist: Muss das Netz tatsächlich verkauft werden oder reicht auch aus, es dem neuen Netzbetreiber bloß zu verpachten und das Eigentum an den Anlagen zu behalten? Das ist häufig in den Konzessionsverträgen geregelt, aber nicht in allen.

Wie müsste diese Klarstellung aussehen?

Der Gesetzgeber sollte klarstellen, dass nur eine Eigentumsübertragung als „Überlassen“ gelten kann. Statt „überlassen“ sollte es „übereignen“ heißen. Ein bloßer Pachtvertrag ist häufig schon gar nicht praktikabel. So müsste dann etwa der Pächter jeden Neubau mit dem Verpächter absprechen. Das heißt, er wäre dauerhaft abhängig davon, dass der alte Netzbetreiber kooperativ bleibt. Das macht keinen Sinn. Im Gegenteil: Zwei Wettbewerber wären über bis zu 20 Jahre über ein Dauerschuldverhältnis zwangsverheiratet und müssten sich täglich über Einzelheiten des Netzbetriebs, Neuinvestitionen, Instandhaltungsmaßnahmen etc. abstimmen. Vor allem aber würde bei einem Pachtmodell jeder Anreiz entfallen, sich überhaupt um die Netzübernahme zu bewerben: Denn nur der Eigentümer der Anlagen kommt in den Genuss der gesetzlich garantierten Eigenkapitalverzinsung nach § 7 I, 6 StromNEV/GasNEV.

Das heißt, als Pächter kann man mit dem Netzbetrieb überhaupt nicht vernünftig verdienen?

Genau. Der Verpächter bekäme eine Verzinsungsgarantie ohne eigenes unternehmerisches Risiko, und der Pächter müsste das Risiko regulatorischer Kostenkürzungen und Effizienzvorgaben tragen, ohne von der garantierten Eigenkapitalverzinsung zu profitieren. Das ist keine faire Verteilung von Chancen und Risiken und kann so nicht gewollt sein. Vor allem aber wird man so keinen Wettbewerb generieren. Die Anreizwirkung, den Netzbetrieb zu übernehmen, würde komplett entfallen, der Wettbewerb wäre tot. Wer also Wettbewerb will, muss durchsetzen, dass das Eigentum übertragen wird.

Wie sieht das aus Sicht der Kommunen aus?

Für die Kommunen wäre eine Pachtlösung ebenfalls verheerend. Denn wenn dann die Konzession neu ausgeschrieben wird und es erneut zu einem Wechsel kommt, kann der Netzbetreiber dem Neuen das Netz gar nicht überlassen – es gehört ihm ja gar nicht. Das heißt, die Kommune wäre auf die Mitarbeit des Netzeigentümers angewiesen, zu dem gar keine Rechtsbeziehung mehr besteht. Die Kommune könnte gar nicht mehr frei entscheiden, wen sie auswählt. Der Altkonzessionär hätte plötzlich Ewigkeitsrechte.

Kann diese Freiheit den Kommunen überhaupt genommen werden?

Nein. Die örtliche Energieversorgung gehört nach Art. 28 II 1 GG zum  verfassungsrechtlich garantierten Bestand der kommunalen Selbstverwaltung. Die Kommune muss insbesondere in der Lage bleiben, zwischen Selbstversorgung und Konzessionierung an Dritte zu wählen. Das könnte sie nicht mehr, wenn der alte Netzbetreiber Eigentümer der Anlagen bleiben könnte. Konsequent wäre, dass der Altkonzessionär die Anlagen beseitigen müsste, ein Ergebnis aus dem das OLG Frankfurt am Main bereits im Jahr 1997 (Az. 11 U (Kart) 38/96) alternativ den Eigentumsübertragungsanspruch abgeleitet hat.

Auf das Grundgesetz könnte sich aber auch der Netzbetreiber als Eigentümer berufen.

Schon. Aber „überlassen“ als Eigentumsübertragung auszulegen, ist eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung zum Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 I GG. Angesichts der beschriebenen verheerenden Folgen einer Pachtvertragslösung für den Wettbewerb um die Netze und die kommunale Selbstverwaltung ist diese Auslegung auch sicherlich nicht unverhältnismäßig, zumal in § 46 II EnWG ja dafür gesorgt ist, dass der Netzeigentümer so oder so eine „wirtschaftlich angemessene Vergütung“ bekommt.

Apropos Vergütung: Diese Formulierung im Gesetz ist Ihnen auch nicht klar und bestimmt genug.

Richtig. Hier suchen sich ja nicht Käufer und Verkäufer auf dem freien Markt danach aus, was sie zahlen oder nehmen wollen. Was heißt also „wirtschaftlich angemessen“? Der bisherige Netzbetreiber sagt: der Sachzeitwert. Kommune und neuer Netzbetreiber sagen: der Ertragswert – der ist nämlich regelmäßig deutlich niedriger, um 50 Prozent und mehr.

Was halten Sie für richtig, Substanz- oder Ertragswert?

Letzteres: Wenn man ein Unternehmen kauft, zahlt man schließlich auch nicht den Substanzwert der erworbenen Bürostühle, sondern einen am zukünftig erwarteten Ertrag orientierten Preis. Das ist in den übrigen Branchen auch schon lange üblicher Standard. Hinzu kommt, dass er von vornherein eben nur „Eigentum auf Zeit“ erworben hat. Dazu kommt, dass hier der Ertrag von regulatorischen Vorgaben abhängt. Mit dem Ertragswert bekommt der Verkäufer, was er mit der bestehenden Substanz noch an Ertrag zu erwarten hätte; der Käufer dagegen bekommt eine Verzinsung nur, wenn er neu investiert. Das ist fair. Mit dem Substanzwert dagegen würde der Verkäufer einen ungerechtfertigten Zusatzgewinn erhalten. Der Gesetzgeber sollte also klarstellen, dass nur der objektive Ertragswert eine angemessene Vergütung darstellt. Mehr könnte der bisherige Netzbetreiber bei Weiterbetrieb des Netzes selbst nicht erwirtschaften.

Wie sieht es denn mit der Frage aus, was alles zu den „notwendigen Verteilungsanlagen“ dazu gehört, die der alte Netzbetreiber dem neuen überlassen muss?

Die alten Netzbetreiber stellen sich häufig auf den Standpunkt, dass sie nur die Anlagen aus der Niederspannung bzw. dem Niederdruck, die ausschließlich der Energieversorgung im betroffenen Gemeindegebiet dienen, übertragen müssen, nicht aber die so genannten gemischt-genutzten Leitungen, die auch andere Gemeindegebiete versorgen.

Zu Recht?

Ich denke nein. Es gibt auch Letztverbraucher, die über Mittel- oder sogar Hochspannungs- bzw. -druckleitungen ans Netz angeschlossen sind. Es kann auch nicht sein, dass der neue Netzbetreiber an sich völlig überflüssige neue Umgehungs- oder Parallelleitungen verlegen muss, weil er die gemischt-genutzten Leitungen nicht übertragen bekommt. Das wäre mit dem Ziel, die Energieversorgung kosten- und preisgünstig zu halten, kaum vereinbar, zumal man damit auch die Einspeisung Erneuerbarer Energien erschweren würde.

Und das Ziel, den Wettbewerb zu fördern?

Das würde damit obendrein behindert, weil große überregionale Energieversorger damit einen Anreiz besäßen, möglichst viele Leitungen auch für Durchleitung zu nutzen, damit sie sie nicht übertragen müssen – zulasten des neuen Netzbetreibers, der kostspielig neue Leitungen verlegen müsste. Daher sollte der Gesetzgeber klarstellen, dass „sämtliche“ notwendigen Anlagen überlassen werden müssen.

Kann man neben dem Klageweg nicht auch die Aufsichtsbehörden einschalten, wenn es zum Streit um den Umfang von Rechten und Pflichten kommt?

Im Prinzip ja. Es gibt einen gemeinsamen Leitfaden von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur, der dies klarstellt. Danach ist die Bundesnetzagentur (BNetzA) zuständig, wenn es um Ansprüche aus § 46 EnWG geht, die einen regulatorischen Bezug haben – und das sei erst nach der Auswahlentscheidung der Kommune der Fall. Für die Phase davor sei allein das Bundeskartellamt (BKartA) zuständig. Wenn man aber künftig die Auskunftspflicht des Altkonzessionärs im Konzessionierungsverfahren im Gesetz verankert, dann sollte auch dafür die BNetzA zuständig sein.

Teil 2 des Interviews: Was der Trend zur Rekommunalisierung der Energieversorgung mit dem Klimaschutz zu tun hat – und was der Gesetzgeber tun kann, ihn zu befördern.

Ansprechpartner: Prof. Dr. Christian Theobald

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