BGH verleiht dem Beihilferecht zivilrechtliche Zähne
Bei unzulässig gewährten Beihilfen dürfen Wettbewerber Ansprüche auf Auskunft, Un-terlassung, Beseitigung und Schadensersatz stellen, und die nationalen Gerichte haben diese Ansprüche zu beachten. Dies hat der BGH in zwei Revisionsverfahren betreffend Klagen von Lufthansa und Air Berlin gegen die Flughäfen Frankfurt-Hahn und Lübeck entschieden (I ZR 213/08 – Flughafen Lübeck und I ZR 136/09 – Flughafen Frankfurt-Hahn). Zu den Urteilen liegt bislang nur eine Pressemitteilung (Nr. 28/11 vom 10. Februar 2011) vor.
In beiden Fällen ging es um Vergünstigungen, die Flughäfen dem Luftfahrtunternehmen Ryanair gewährt hatten. Lufthansa und Air Berlin verlangten als Wettbewerber Auskunft und Unterlassung aus deliktischen und wettbewerbsrechtlichen Gründen. Argument: Aufgrund der Beteiligungsverhältnisse seien beide Flughäfen staatliche Unternehmen, die dem europäischen Beihilfenrecht unterliegen. Daher handele es sich bei den Vergüns-tigungen zugunsten der Ryanair um nicht angemeldete und damit europarechtlich unzu-lässige staatliche Beihilfen.
BGH: Ansprüche auf deliktrechtlicher und wettbewerbsrechtlicher Grundlage begründet
Während die Vorinstanzen die Klagen noch mit der Begründung abwiesen, bei potentiellen Beihilfenrechtsverstößen bestünden keine zivilrechtliche Ansprüche für Wettbewerber, hat der BGH die Kläger voll bestätigt. Der Grund liegt in Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV: Dieser besagt, dass eine Beihilfe nur gewährt werden darf, wenn die Kommission dies vorher gestattet hat (beihilferechtliches Durchführungsverbot). Diese Norm des europäischen Primärrechts, so der BGH, sei ein Schutzgesetz, das gerade auch im Interesse der Konkurrenten eines Beihilfenempfängers bestehe. Darüber hinaus sei es auch eine Marktverhaltensregelung i. S. des § 4 Nr. 11 UWG, so dass Verstöße gegen das Beihilfenverbot wegen Rechtsbruchs unlauter sein können.
Beihilfen können auf dem Zivilrechtsweg zurückgefordert werden
Die Vorinstanzen haben daher nunmehr zu prüfen, ob die Ryanair eingeräumten Konditi-onen als Beihilfen zu bewerten sind, die bei der Kommission anzumelden wären. Sollte die Gerichte Beihilfen feststellen, dürfen sie – vorbehaltlich von Freistellungsmöglichkeiten – zudem nicht darüber entscheiden, ob sie genehmigt werden können. Diese Beurteilung obliegt allein der Kommission. Die Gerichte müssen vielmehr dem europarechtlich angeordneten Durchführungsverbot zunächst voll Rechnung tragen und die Flughäfen zur Beseitigung aller Vorteile aus der Beihilfengewährung verurteilen.
Das europäische Beihilfenrecht gewinnt an Durchschlagskraft
Mit diesem Grundsatzurteil verleiht der BGH dem europäischen Beihilfenrecht zivil-rechtliche Zähne. Es gilt zudem nicht nur im Flughafensektor, sondern generell für alle öffentlichen Unternehmen, ob solche der Daseinsvorsorge oder aus anderen wettbewerbsrelevanten Sektoren.
Öffentlich Unternehmen muss daher bewusst sein, dass sie beihilfenrechtlich von drei Seiten in die Zange genommen werden:
- Erstens kann ihnen jederzeit eine Überprüfung durch die Europäische Kommission drohen. Gerade die Flughäfen waren in der Vergangenheit die häufigsten Adressaten von Beihilfenkontrollverfahren im Bereich der staatlichen und kommunalen Daseinsvorsorgeunternehmen.
- Zweitens ist das EU-Beihilfenrecht auch in den Fokus der Wirtschaftsprüfer gerückt. Gemäß dem neuen Verlautbarungsentwurf des Instituts der Wirtschaftsprüfer IDW EPS 700 vom 23.06.2010 haben die Wirtschaftsprüfer jetzt im Jahresabschluss zu beurteilen, ob eine ordnungsgemäße Rechnungslegung in Übereinstimmung mit dem EU-Beihilfenrecht stattgefunden hat. Der neue Standard gilt trotz des Entwurfstadiums bereits für den Jahresabschluss 2010.
- Drittens steht es jetzt Wettbewerbern offen, bei staatlichen Vergünstigungen an ihre Konkurrenten im Zivilrechtsrechtsweg überprüfen zu lassen, ob die potentielle Vorteilsgewährung beihilferechtskonform ist, und eine Untersagung wegen Verstoßes gegen das beihilfenrechtliche Durchführungsverbot zu verlangen.
Aktive beihilfenrechtliche Absicherungsmaßnahmen sind jetzt unumgänglich
Öffentliche Unternehmen, die auch weiterhin ihren Auftrag zu Daseinsvorsorge, Wirt-schaftsförderung oder Regionalförderung für ihre Trägerkörperschaften wahrnehmen wollen, müssen jetzt handeln, um schwerwiegenden Rechtsnachteile zu vermeiden.
Absicherungsmöglichkeiten gibt es nicht nur für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die mit dem Begriff der Daseinsvorsorge identisch sind, sondern auch für die regionale Wirtschaftsförderung, insbesondere in strukturschwachen Gebieten. Das Europäische Beihilfenrecht bietet also eine Vielzahl von Freistellungsmöglichkeiten vom grundsätzlichen Durchführungsverbot für Beihilfen, die es jetzt zu nutzen gilt.
Gemeinsam ist allen diesen Absicherungsmaßnahmen, dass sie keinen Automatismus zugunsten der öffentlichen Unternehmen kennen. Das bedeutet, die Absicherung muss proaktiv, im Vorhinein und strikt entlang der europarechtlichen Vorgaben für Freistellungen vom Durchführungsverbot gestaltet werden. Allein die Tatsache, dass Ausnahmen vom Beihilfenverbot für öffentliche Unternehmen im Europarecht vorgesehen sind, reicht für die Absicherung der jeweiligen Maßnahmen eindeutig nicht aus.
Die Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer der Sozietät BBH konnten in den letzten Jahren umfangreiche Erfahrungen mit der Gestaltung von beihilfenrechtlichen Absicherungsmaßnahmen für Kommunen und kommunale Unternehmen sammeln – dank ihrer wissenschaftlichen Publikationstätigkeit auch im Flughafen- und Luftverkehrssektor.
Ansprechpartner: Dr. Christian Jung
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