Der Zar in Luxemburg

(c) BBH
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„Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit.“ So sagte man einst in Russland, wenn man zum Ausdruck bringen wollte, dass die staatliche Gewalt im Alltagsleben der Russen nur wenig spürbar war.

In ganz ähnlicher Weise sprachen viele deutsche Unternehmen lange von der EU. Diese saß in Brüssel, erließ angeblich Regelwerke über den Krümmungsgrad von Gurken und spielte im Leben des rechtschaffenen Mittelständlers (sofern er nicht gerade Gurken produzierte) so gut wie keine Rolle. Dass die EU im Hintergrund für viele Regelungen verantwortlich war, und tiefgreifende Reformen wie die Liberalisierung der Energiemärkte sowie zahllose Umweltschutzvorschriften maßgeblich auf die EU zurückgingen, war zwar abstrakt bekannt, trat aber praktisch in den Hintergrund. Der Bürger – auch der Bürger als Unternehmer – sah den Bundestag und die nationalen Behörden als Entscheider an. Stritt man sich mit der Hoheitsgewalt vor Gericht, so pilgerte man nach Karlsruhe vors Bundesverfassungsgericht (BVerfG).

Diese Zeiten sind heute wohl unwiderruflich vorbei. Die großen Streitfragen gerade im Energie- und Umweltbereich werden heute nicht mehr in Berlin politisch und in Karlsruhe gerichtlich ausgefochten. Stattdessen schaut man nach Brüssel und Luxemburg. Ob es nun um die Entlastung der stromintensiven Industrie im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) geht oder um eine Härtefallzuteilung für insolvenzgefährdete Unternehmen, die am Emissionshandel teilnehmen müssen, ob man nach der Vorsteuerberechtigung einer Holding-Gesellschaft fragt oder ob das Preisanpassungsrecht der deutschen Grundversor­gungsverordnungen nach § 5 Strom-/GasGVV mit dem Europarecht vereinbar ist – stets hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort.

Damit verlängern sich nicht nur die Anreisewege für die Parteien und ihre Anwälte. Auch die Spielregeln vorm EuGH unterscheiden sich von dem gewohnten deutschen Prozessrecht. Rechtsberater, aber auch die für die betroffenen Unternehmen müssen sich oft deutlich umstellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Bundesrepublik kann man die meisten prozessualen Fristen durch einen simplen Zweizeiler einhalten, der etwa nur enthält, dass man Berufung einlegt und später begründen wird. Vor den EU-Gerichten sind zum Fristablauf vollständige Begründungen gefragt. Das heißt: Unternehmen müssen sich oft schneller entscheiden. Erst einmal Chancen zu wahren, und dann weiterzusehen, ist oft nicht möglich.

Auch in vielen anderen kleinen und größeren Punkten ändern sich nicht nur Details wie die Schriftgröße von Schriftsätzen oder der Umstand, dass das EU-Prozessrecht im Wesentlichen nur Anfechtungen kennt, aber keine Möglichkeit vorsieht, die Organe der EU auch zu etwas zu verpflichten. Generell zieht die Europäisierung des Umwelt- und Energierechts zwangsläufig einen Prozess des Umdenkens nach sich. Denn wenn sich Entscheidungen verlagern, verändert sich auch der Blickwinkel. Gewachsene Strukturen und nationale, gar regionale Besonderheiten spielen vor den EU-Gerichten naturgemäß nicht mehr dieselbe Rolle wie bisher. Das erhöht den Veränderungsdruck auf einzelne Unternehmen und ganze Branchen.

Für die deutschen Unternehmen gerade im Mittelstand bedeutet das: Sie müssen sich noch schneller, noch innovativer und noch effizienter an die oft ehrgeizigen Zielvorstellungen der EU-Energie- und Klimapolitik anpassen. Ihre Belange und Besonderheiten müssen sie schon lange,  bevor Bund und Länder sich mit einer Materie befassen, auf EU-Ebene eingespeist haben. Ihre Netzwerke, auch auf Verbandsebene, müssen sie weiter und grenzüberschreitender aufstellen als bisher. Sie müssen aber auch rechtlich viel langfristiger denken. Wenn sie ihre Rechtsverhältnisse gestalten, müssen sie bereits mitreflektieren, was an gerichtlicher Aufarbeitung und Überprüfung von Regelwerken und Einzelmaßnahmen europarechtlich noch auf sie zukommen kann. Denn das russische Sprichwort vom Zaren, der fast so weit weg ist, wie der Himmel, mag bezogen auf die EU vielleicht noch für Russland gelten. Für die Bundesrepublik aber schon lange nicht mehr.

Ansprechpartner: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Dörte Fouquet

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