Juristisches Neuland nach dem Brexit

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Im Rahmen des Referendums am 23.6.2016 hat die Mehrheit der Briten für einen Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) gestimmt. Diese Entscheidung ist in der Geschichte der EU beispiellos.

Nun beginnt eine Zeit der rechtlichen Unsicherheit, und es stehen große Veränderungen ins Haus: Diese betreffen nicht nur Großbritannien und seine Handelsbeziehungen mit der EU, einschließlich der Zollvorschriften bzw. -kontrollen. Auch auf die europäische Regulierung, insbesondere in der Energie- und Finanzdienstleistungsbranche, sowie auf die britischen Handelsbeziehungen mit Drittstaaten würde sich der Brexit auswirken.

Dass Mitgliedstaaten aus der EU austreten können, wurde im Vertrag von Lissabon eingeführt. Art. 50 EUV (Vertrag über die Europäische Union) schreibt keine konkreten Bedingungen dafür vor, sondern regelt lediglich das Verfahren. So hat der britische Premierminister den Europäischen Rat vom Wunsch der Bevölkerung nach einem Austritt Großbritanniens offiziell in Kenntnis zu setzen. Der Vertrag schreibt nicht vor, dass Großbritannien die Notifizierung an den Rat unverzüglich übermitteln muss. Der scheidende Premierminister hat auf dem Europäischen Rat in der letzten Juniwoche angekündigt, dass sein Nachfolger dies unverzüglich nach Amtsantritt täte, das wäre dann im Oktober 2016. Wenn dies nicht geschieht, gibt es Stimmen die drängen, in der Hängepartie um die formelle Austrittsmitteilung einen Verstoß gegen die alle Mitgliedstaaten und die Kommission bindende Loyalitätspflicht durch Großbritannien zu sehen. Es könnte dann geprüft werden, die Notifizierung mit der Ankündigung von Herrn Premierminister Cameron als erklärt anzusehen.

Die Einzelheiten der künftigen Beziehung zwischen Großbritannien und der Union sind in einem Austrittsabkommen zwischen der EU und Großbritannien auszuhandeln. Kommt es innerhalb von zwei Jahren zu keiner Einigung, endet die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU automatisch, sofern der Europäische Rat nicht einstimmig beschließt, die Frist zu verlängern.

Die Rechtsfolge eines Austrittsabkommens mit der Europäischen Union besteht darin, dass die Anwendung von EU-Verträgen und entsprechenden Protokollen auf Großbritannien unverzüglich endet. Das EU-Recht ist dann in Großbritannien nicht länger anwendbar, wobei nationale Gesetze zur Durchführung und Umsetzung von EU-Recht – vom Gleichstellungsgesetz sowie Vorschriften zu Arbeitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz bis hin zu gemeinsamen Regelungen für Kraftfahrzeuge – ihre Gültigkeit für Großbritannien weiterhin behalten, bis das britische Parlament sie ändert oder aufhebt. Ein Austrittsabkommen müsste auch den Ausstieg aus EU-Finanzierungsprogrammen und anderen EU-Normen regeln.

Es wird daher für Großbritannien und die Europäische Union sehr schwierig werden, in der Austrittsphase Gesetze oder Entscheidungen zu verabschieden, die über das realistische Austrittsdatum hinaus gelten.

Großbritannien stehen, nachdem es der EU gegenüber seine Austrittsabsicht offiziell bekundet hat, verschiedene Möglichkeiten Verfügung:

Option 1: Großbritannien tritt dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bei – wie alle EFTA-Staaten (mit Ausnahme der Schweiz), die sich gegen einen EU-Beitritt entschieden haben.
Zwischen dem EWR und der EU besteht ein Handelsabkommen, das u.a. den Zugang zum EU-Binnenmarkt – auch die Freizügigkeit für Arbeitnehmer – ermöglicht. Der EWR umfasst derzeit lediglich ein großes Mitglied – Norwegen – und zwei kleinere Staaten (Island und Liechtenstein).

Option 2: Die zweite Möglichkeit für Großbritannien wäre, denselben Weg wie das EFTA-Mitglied Schweiz einzuschlagen.
Die Schweiz gehört nicht zum EWR, hat aber über 20 bedeutende und 100 kleinere bilaterale Abkommen mit der EU abgeschlossen.

Option 3: Großbritannien könnte – wie die Türkei – die Gründung einer Zollunion mit der EU oder zumindest ein tiefgreifendes und umfassendes Freihandelsabkommen anstreben.

Option 4: Die vierte – womöglich weitaus schwierigere Lösung – für Großbritannien wäre, betreffend den Zugang zum Europäischen Markt auf die bestehenden WTO-Regeln zu bauen.

Option 5: Die fünfte, von vielen Brexit-Befürwortern bevorzugte Option, wäre der Abschluss eines Sonderabkommens zwischen der EU und Großbritannien, das den Briten mehr Rechte als Norwegen oder den anderen EFTA- bzw. EWR-Staaten wie der Schweiz oder Island einräumt sowie einen Opt-out bei der umstrittenen Arbeitnehmerfreizügigkeit ermöglicht. Wie realistisch ein Abkommen ist, das für Großbritannien eine günstigere Behandlung als z.B. Norwegen vorsieht, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

In einem Austrittsabkommen könnte vereinbart werden, dass EU-Recht übergangsweise anwendbar bleibt, insbesondere die Unionsbürgerrechte oder andere Ansprüche aus EU-Recht, die ansonsten mit dem Austritt erlöschen würden. Dazu wäre jedoch viel guter Wille am Verhandlungstisch erforderlich. Was die Bereiche der ausschließlichen EU-Zuständigkeit betrifft, wird Großbritannien die bestehenden Vorschriften nun durch nationale Gesetze ersetzen müssen.

Die Bereiche, in denen die EU ausschließliche Zuständigkeit besitzt, sind in Art. 3 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union) aufgelistet. Die diesbezüglich wichtigsten Bereiche für Großbritannien sind:

  1. Die Zollunion
  2. Die für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln
  3. Die Gemeinsame Handelspolitik
  4. Der Abschluss internationaler Übereinkünfte,
    – wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der Union vorgesehen ist,
    – wenn er notwendig ist, damit die EU ihre interne Zuständigkeit ausüben kann,
    – oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte.
  5. Die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik

Deshalb ist Großbritannien nun gezwungen, neue Handelsabkommen mit der EU und allen 58 Ländern auszuhandeln, die derzeit über Freihandelsabkommen mit der EU verfügen.

Ansprechpartner: Dr. Dörte Fouquet

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