Privatisierungsverbot für Verteilernetze kann europarechtskonform sein

(c) BBH
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Bis 2015 laufen in Deutschland etwa 1.000 Konzessionsverträge im Bereich der Strom- und Gasversorgung aus. Die Diskussion, ob die örtlichen Energienetze (wieder) durch die Städte und Kommunen selbst betrieben werden sollen, ist unter dem Stichwort Rekommunalisierung in vollem Gang. Die Niederlande dagegen sind einen etwas anderen Weg gegangen, die soziale Verantwortung im Netzbetrieb hervorzuheben. 2006 führten sie durch das Gesetz über einen unabhängigen Netzbetrieb drei Verbote ein: Erstens verboten sie die Beteiligung Privater an niederländischen Netzbetreibern. Sämtliche Anteile müssen danach in öffentlicher Hand verbleiben. Zweitens würde ein Konzernverbot bzw. vollständiges Unbundling eingeführt, welches Konzernstrukturen verbietet, an denen sowohl Netzbetreiber als auch Erzeuger/Lieferanten beteiligt sind. Und drittens wurde das Verbot sachfremder Tätigkeiten für Netzbetreiber implementiert.

Mit Urteil vom 22.10.2013 (C-105/12, C-106/12 und C-107/12) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass diese Verbote den freien Kapitalverkehr auf zulässige Weise beschränken.

In dem Fall ging es um einen Rechtsstreit zwischen den Niederlanden und den Gesellschaften Essent NV, Essent Nederland BV, Eneco Holding NV und Delta NV. Diese waren zunächst vertikal integrierte Unternehmen, die im niederländischen Hoheitsgebiet sowohl Elektrizität und Gas erzeugten, lieferten und vertrieben als auch die Verteilernetze betrieben und bewirtschafteten. Infolge des Erlasses des besagten Gesetzes wurde die Essent NV in zwei verschiedene Gesellschaften aufgespalten, von denen eine lediglich das Verteilernetz betreibt. Sämtliche Anteile derer sind in öffentlicher Hand.

Die Gesellschaften beantragten die Feststellung, dass das Privatisierungs- und Konzernverbot für im niederländischen Hoheitsgebiet tätige Verteilernetzbetreiber und das Verbot sachfremder Tätigkeiten für den Netzbetrieb mit Art. 63 AEUV unvereinbar sind und damit eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellen.

Das Urteil

Das Ergebnis: Die niederländischen Vorschriften sind mit dem Unionsrecht vereinbar.

Zunächst stellte der EuGH fest, dass das Privatisierungsverbot unter Art. 345 AEUV fällt. Dieser besagt, dass die europarechtlichen Verträge gegenüber der Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten neutral sind. Demnach ist es den Mitgliedstaaten erlaubt, das Ziel zu verfolgen, für bestimmte Unternehmen eine Zuordnung des Eigentums an den Netzen in öffentliche Trägerschaft einzuführen oder aufrechtzuerhalten.

Das Privatisierungsverbot beschränkt zwar aufgrund seiner Wirkungen den freien Kapitalverkehr. Das kann aber gerechtfertigt sein, soweit damit zwingende Allgemeininteressen gewahrt werden, etwa die Verhinderung von Quersubventionen und die Sicherstellung hinreichender Investitionen in die Netze. Nach der Rechtsprechung der Luxemburger Richter können rein wirtschaftliche Motive an sich keine zwingenden Gründe darstellen – es sei denn, sie dienen dem Allgemeininteresse. Das Ziel eines unverfälschten Wettbewerbs wird auch vom AEUV-Vertrag verfolgt und soll letztlich den Verbraucher schützen, was ein zwingender Grund des Allgemeininteresses ist. Ebenso verhält es sich mit dem Ziel, ausreichende Investitionen in die Elektrizitäts- und Gasverteilernetze zu garantieren und dadurch die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten. Dies begründet der Gerichtshof mit dem 23. Erwägungsgrund der Elektrizitätsbinnenmarkt- und Gasbinnenmarktrichtlinie (2003/54/EG und 2003/55/EG), wonach der Aufbau und der Erhalt der erforderlichen Netzinfrastruktur wichtige Elemente sind, um eine stabile Elektrizität- und Gasversorgung sicherzustellen.

Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass die Beschränkungen den verfolgten Zielen angemessen sein müssen und nicht über das zu deren Erreichung erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Diese Grundsätze beziehen sich in gleicher Weise auf das Konzernverbot und das Verbot der dem Interesse des Netzbetreibers potenziell zuwiderlaufenden Tätigkeiten.

Hat dies Folgen für Deutschland?

Auch wenn in Deutschland kein Privatisierungsverbot diskutiert wird, sondern allenfalls ein „Rekommunalisierungsgebot“, ist die Entscheidung des EuGH von Interesse. Denn sie stellt klar, dass sowohl das Ziel eines unverfälschten Wettbewerbs, das letztlich den Verbraucher schützen soll, als auch das Ziel, die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten, zwingende Gründe des Allgemeininteresses sind, die Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit rechtfertigen können.

Eine vollständige Entflechtung des Verteilnetzbereichs ist in Deutschland sicherlich anders zu beurteilen, als in den Niederlanden. In Deutschland existiert bereits eine pluralistische Struktur der Verteilernetzbetreiber und gerade keine – ggf. wettbewerbsbeschränkende – flächendeckende Konzerneinbindung der Verteilernetzebene, wie sie in den Niederlanden anzutreffen war. Insoweit dürfte die Übertragbarkeit der Aussagen des Urteils sehr fraglich sein.

Mit dem Urteil wird aber – auch für die Bundesrepublik – das Recht der Mitgliedstaaten gestärkt, die allgemeine Struktur ihrer Energieversorgung festzulegen. Sollte die Debatte um die Einführung eines nationalen Übertragungsnetzbetreiber in der neuen deutschen Regierung aufgegriffen werden, ist dieses Urteil sicher hilfreich.

Durch das Urteil wird ferner klargestellt, dass Verteilernetze in öffentlicher Hand – wie in Deutschland üblich – mit europäischem Recht in jedem Fall vereinbar sind und Wettbewerbsstrukturen in der Energiewirtschaft nicht unzulässig behindern. Diese Klarstellung ist interessant, weil auch in der deutschen Rekommunalisierungsdebatte kommunale Netzbetreiberstrukturen prinzipiell in Frage gestellt werden. Hierfür gibt es nach der Entscheidung des EuGH weder eine Grundlage im deutschen Verfassungsrecht noch eben im europäischen Recht.

Ansprechpartner: Prof. Christian Held/Dr. Dörte Fouquet /Dr. Jost Eder

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