„Letztverbraucher oder nicht Letztverbraucher?“ – Spruchpraxis der BNetzA zu § 19 Abs. 2 StromNEV in Industrienetzen und die Konsequenzen

Die im Sommer 2011 neu eingeführte vollständige Netzentgeltbefreiung für energieintensive Netznutzer und der neue bundesweite Belastungsausgleich für die entgangenen Erlöse der Netzbetreiber nach § 19 Abs. 2 StromNEV sorgt für Diskussionen (siehe u.a. Blog vom 17.10.2011). Vor einem besonderen Problem stehen aktuell die Betreiber sog. geschlossener Verteilernetze nach § 110 EnWG, an deren Netze Standortunternehmen angeschlossen sind, die die Voraussetzungen für die Netzentgeltbefreiung erfüllen. Typischerweise betroffen sind große Industrieareale etwa der Metall-, Papier- und Glasindustrie sowie Chemieparks. Die Betreiber dieser Netze sehen sich einer Spruchpraxis der Bundesnetzagentur (BNetzA) ausgesetzt, die im schlimmsten Fall dazu führt, dass den Betreibern Erlöse in Millionenhöhe entgehen, ohne dass sie die Chance haben, diese über den neuen Belastungsausgleich erstattet zu bekommen. Grund ist ein divergierendes Verständnis der BNetzA-Beschlusskammern 4 und 8 vom Begriff des „Letztverbrauchers“ – mit teils dramatischen Auswirkungen für die Industrie.

Netzentgeltbefreiungen durch die BK 4

Die BK 4 der BNetzA ist neben den Landesregulierungsbehörden zuständig für die Genehmigung der Netzentgeltbefreiungen für intensive Netznutzer nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV. Bei ihr und den Regulierungsbehörden sind mehrere hundert Anträge auf Netzentgeltbefreiung eingegangen. Einige betreffen Letztverbraucher in geschlossenen Verteilernetzen. Die Spruchpraxis der Regulierungsbehörden ist durch die BNetzA mit dem Leitfaden von individuellen Netzentgelten nach § 19 Abs. 2 Satz 1 StromNEV und Befreiungen von den Netzentgelten nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV mit Stand September 2011 vorgegeben. In diesem federführend von der BK 4 erstellten Leitfaden heißt es wörtlich:

„Aufgrund der Neuregelung des § 110 EnWG, wonach geschlossene Verteilernetze mit Ausnahmen grundsätzlich der Regulierung unterliegen, sind diese mit Blick auf § 19 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 StromNEV nicht mehr als Letztverbraucher im Sinne des § 19 Abs. 2 StromNEV einzustufen.“

Konsequenz ist, dass geschlossene Verteilernetze selbst nicht berechtigt sind, Anträge gemäß § 19 Abs. 2 StromNEV zu stellen, allerdings die angeschlossenen Letztverbraucher in geschlossenen Verteilernetzen bei Erfüllung der Voraussetzungen ihrerseits einen Anspruch auf Entgeltreduzierung bzw. Entgeltbefreiung haben. Entgelt in diesem Sinne ist das von den Betreibern der geschlossenen Verteilernetze nach der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) kalkulierte Netznutzungsentgelt, das – neben den eigenen Kosten für den Netzbetrieb – über die Kostenwälzung auch die Kosten der vorgelagerten Netzebenen enthält. Nach der Neufassung des § 110 EnWG im Sommer 2011 sind die Betreiber geschlossener Verteilernetze zu einer „normalen Entgeltkalkulation“ verpflichtet, lediglich von der Anreizregulierung sind sie befreit. Auch wenn erste Genehmigungen zur Befreiung von Letztverbrauchern in geschlossenen Verteilernetzen noch fehlen, haben die BK 4 und erste Landesregulierungsbehörden in den laufenden Verfahren bestätigt, an den Aussagen im Leitfaden festzuhalten, also Letztverbraucher in geschlossenen Verteilernetzen vollständig von den dortigen Entgelten zu befreien.

Das Verständnis der BK 4 ist nicht zu beanstanden: Geschlossene Verteilernetze werden nach der Reform des Energiewirtschaftsrechts im vergangenen Jahr (als Konsequenz neuer europarechtlicher Vorgaben nach der Entscheidung des EuGH zur Europarechtswidrigkeit des alten § 110 EnWG) weitestgehend wie jeder andere Verteilernetzbetreiber behandelt. Dann ist es nur konsequent, wenn intensive Netznutzer in geschlossenen Verteilernetzen, wie alle anderen intensiven Netznutzer in Deutschland auch, bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 StromNEV umfassend von den Netzentgelten befreit werden. Alles andere würde einen Systembruch darstellen und zu Verwerfungen im Wettbewerb zwischen den beteiligten Industrieunternehmen führen.

BK 8: Keine Erstattung der entgangenen Erlöse

Problematisch ist jedoch, dass die BK 8 der BNetzA das Begriffsverständnis der BK 4 nicht teilt. Die BK 8 ist zuständig für den Belastungsausgleich, mit dem die entgangenen Erlöse der betroffenen Verteilnetzbetreiber deutschlandweit vergleichmäßigt werden sollen. Hierzu hat die BK 8 am 14.12.2011 die Festlegung BK8-11-024 beschlossen. In dem Beschlusstenor ist zwar noch allgemein von Verteilernetzbetreibern die Rede, was auch die Betreiber geschlossener Verteilernetze erfasst. In den Beschlussgründen finden sich jedoch abweichende Ausführungen, mit denen die BK 8 der BK 4 widerspricht:

„Eine Einbeziehung geschlossener Verteilernetze, insbesondere solche mit dezentraler Erzeugung, außerhalb der allgemeinen Versorgung (würde) den gesetzlichen und verordnungsrechtlichen Vorgaben widersprechen. […] Betreiber von geschlossenen Verteilernetzen sind im Sinne der § 19-Umlage wie Letztverbraucher zu behandeln.“

Konsequenz ist, dass die Betreiber von geschlossenen Verteilernetzen keine entgangenen Erlöse erstattet bekommen.

Auf den Punkt gebracht: Nach der BK 4 sind geschlossene Verteilernetze ausdrücklich keine Letztverbraucher, weshalb die dort angeschlossenen Kunden von den Entgelten des geschlossenen Verteilnetzes befreit werden. Nach der BK 8 hingegen sind geschlossene Verteilernetze ausdrücklich wie Letztverbraucher zu behandeln, weshalb sie die durch die BK 4 (und die Landesregulierungsbehörden) genehmigten Befreiungen entgangenen Erlöse nicht erstattet bekommen.

Teils dramatische Konsequenzen

Dass die Beschlusskammern der BNetzA sich nicht auf eine einheitliche Rechtsauffassung einigen können, hat für die Betreiber geschlossener Verteilernetze ebenso wie für ihre Standorte insgesamt und letztlich auch für die befreiten Standortunternehmen wirtschaftlich dramatische Konsequenzen. Es ist naheliegend, dass die Betreiber geschlossener Verteilernetze entgangene Erlöse – oft in Millionenhöhe – nicht selbst tragen können. Nach dem für sie geltenden System der StromNEV haben sie zwar die theoretische Möglichkeit, die entgangenen Erlöse über die Netzentgelte am Standort zu sozialisieren. Jedoch entfällt auf die von den Netzentgelten befreiten (energieintensiven) Standortunternehmen in aller Regel gerade der größte Absatz am Standort. Die Netzentgelte der nicht befreiten Kunden würden sich immens verteuern. In Einzelfällen geht es um Verdopplungen, Verdreifachungen oder noch höhere Steigerungen, die ganz offensichtlich von den übrigen Standortunternehmen nicht geschultert werden können.

Die Betreiber geschlossener Verteilernetze sehen sich daher gezwungen, gegen die Festlegung BK8-11-024 Beschwerde einzulegen, um so möglicherweise doch noch eine Erstattung zu erreichen. Gleichzeitig stehen sie vor der Notwendigkeit („standortpolitisch“ natürlich äußerst problematisch), auch Beschwerden gegen die genehmigten Entgeltbefreiungen in Betracht zu ziehen, um die Zwickmühle „Befreiung an den Standorten ja“, „Erstattung der entgangenen Erlöse nein“ zu vermeiden. Schließlich erwägen einzelne Betreiber geschlossener Verteilernetze sogar, ihren Antrag auf Einordnung als geschlossenes Verteilnetz nach § 110 EnWG zurückzuziehen, um als Netzbetreiber der allgemeinen Versorgung rechtssicher eine Erstattung der entgangenen Erlöse zu erhalten. Eine ganz offensichtlich vom Gesetzgeber, als er die Privilegierung des § 110 EnWG zugunsten der Industrie geschaffen hat, nicht gewollte Konsequenz einer widersprüchlichen Behördenpraxis.

Ansprechpartner: Dr. Christian de Wyl/Dr. Thies Christian Hartmann/Dr. Markus Kachel

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