Der Streit über Stationsentgelte: Das Kartellrecht im Mittelpunkt der Lösung

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In einem Streit über die Höhe von Stationsnutzungsentgelten hat der Bundesgerichtshof (BGH) das Kartellrecht ins Spiel gebracht (Beschl. v. 29.1.2019, Az. KZR 12/15). Das Urteil vom 1.9.2020 (Az. KZR 12/15) fügt sich in seine bisherige Rechtsprechung zu Trassenentgelten (Urt. v. 29.10.2019, Az. KZR 39/19) ein und eröffnet Eisenbahnverkehrsunternehmen einen Ausweg aus dem Zustand vermeintlicher Rechtlosigkeit gegenüber den marktbeherrschenden Eisenbahninfrastrukturbetreibern. Eine weitere Entscheidung aus Luxemburg könnte dennoch anstehen.

Ein neues Stationspreissystem

Die Revisionen beider Parteien waren vor dem BGH erfolgreich. Der Kartellsenat hat das Urteil des OLG Dresden (v. 11.2.2015, Az. U 3/14) aufgehoben und die Sache zurückgewiesen. Es handelt sich dabei um die Klage eines Eisenbahnverkehrsunternehmens (Klägerin), Die Länderbahn, gegen die Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn AG, DB Station & Service, ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen (Beklagte).

Die Parteien schlossen 1998 einen Rahmennutzungsvertrag über die Stationsnutzung. Zu diesem Zeitpunkt galt das Stationspreissystem 1999, das Einzelpreise für jeden der von der Beklagten betriebenen Bahnhöfe vorsah. Zum 1.1.2005 führte die Beklagte ein neues Stationspreissystem ein. Danach wurden die zu zahlenden Entgelte nach bestimmten Preiskategorien und bezogen auf die jeweiligen Bundesländer pauschal ermittelt. Für die meisten Eisenbahnverekehrsunternehmen führte das neue System zu deutlichen Preiserhöhungen – so auch für die Klägerin. Die Klägerin zahlte die Differenz zu den Preisen von 2004 deshalb ab dem 1.1.2005 nur noch unter Vorbehalt.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Rückzahlung der über das Preisniveau von 2004 hinausgehenden Teilbeträge in Höhe von 747.057,74 Euro.

Sektorspezifische Entgeltkontrolle vor zivilrechtlicher Billigkeitskontrolle

Aus Sicht der Bundesrichter war die Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB, die das Berufungsgericht vorgenommen hatte, nicht zulässig. Der EuGH hatte bereits 2017 (Urt. v. 9.11.2017, Rs. C-489/15) entschieden, dass die Eisenbahninfrastrukturrichtlinie (RL 2001/14/EG) der Billigkeitskontrolle entgegensteht. Laut EuGH hat die in der Eisenbahninfrastrukturrichtlinie von 2001 vorgesehene branchenweite Regulierung von Infrastrukturnutzungsentgelten kategorisch Vorrang vor einer individuellen Billigkeitskontrolle nach nationalem Zivilrecht. Obwohl die RL 2001/14/EG nur für die Bedingungen der Schienenwegenutzung gilt, hat der BGH ihren Anwendungsbereich auch auf die im Streitfall maßgeblichen Stationsnutzungsentgelte ausgedehnt.

Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV

Damit schien es eine Zeit lang, als ob Eisenbahnverkehrsunternehmen jedenfalls für die Vergangenheit dem Diktat der beherrschenden Infrastrukturunternehmen des DB-Konzerns ausgeliefert wären. Denn die Bundesnetzagentur (BNetzA), die für die Regulierung der Nutzungsentgelte allein zuständig ist, hat mit Beschluss vom 11.10.2019 eine rückwirkende Kontrolle von Stationsnutzungsentgelten als unzulässig abgelehnt.

Mit seinem Urteil hat der BGH nun festgestellt, dass Eisenbahnverkehrsunternehmen trotz generellen Vorrangs der Regulierung individuelle Ansprüche aus § 33a Abs. 1 GWB bzw. den Vorgängervorschriften zustehen können, wenn ein Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV vorliegt. Nationale Zivilgerichte haben bei der Entscheidungsfindung ohnehin immer das europäische Kartellrecht und damit insbesondere Art. 102 AEUV anzuwenden. Das ergibt sich bereits grundsätzlich aus dem Vorrang des europäischen Primärrechts gegenüber dem Sekundärrecht und ist auch in Art. 1 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 ausdrücklich festgelegt. Im Übrigen ist dem EU-Recht nicht zu entnehmen, dass das Preissetzungsverhalten von Eisenbahninfrastrukturen, soweit sie den Vorgaben der RL 2001/14/EG und evtl. nationalen Umsetzungsvorschriften unterliegen, der Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV entzogen wäre.

Eine marktbeherrschende Stellung der Beklagten ist nach der Auffassung des BGH bei der Nutzung von Personenbahnhöfen für Eisenbahnverkehrsleistungen zweifelsfrei zu bejahen. Schließlich handelt es sich dabei um unverzichtbare Einrichtungen für jede Art von Beförderungsleistungen im Schienenpersonenverkehr, und die DB Station & Service AG betreibt davon mehr als 90 Prozent.

Aufgrund dieser marktbeherrschenden Position der DB Station & Service haben Zivilgerichte immer auch zu prüfen, ob die dafür verlangten Preise missbräuchlich festgesetzt oder erhoben werden, wenn entsprechende Anhaltspunkte vorliegen.

Stellt das Gericht missbräuchlich überhöhte Entgelte fest, so ist eine Forderung dieser Preise nach Art. 1 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1/2003 verboten. Ein entsprechender Vertrag ist nach § 134 BGB nichtig, ohne dass es einer Entscheidung dazu bedürfe. Für das marktbeherrschende Unternehmen DB Station & Service fehlt es dann an einem rechtlichen Grund für ihre Entgeltforderung, und bereits vereinnahmte Gelder sind an den jeweiligen Vertragspartner zurück zu erstatten.

Kein Kompetenzkonflikt

Der BGH stellt außerdem fest, dass zwischen der Entgeltkontrolle der Regulierungsbehörde nach der RL 2001/14/EG und der Anwendung des Missbrauchsverbots aus Art. 102 AEUV durch die Zivilgerichte kein Kompetenz- oder Zielkonflikt besteht. Die Zuerkennung der kartellzivilrechtlichen Ansprüche hat nämlich keinen unmittelbaren Einfluss auf die Kompetenzen der Regulierungsbehörde, da die ordentlichen Gerichte abgeschlossene Sachverhalte bewerten, wohingegen die Entgeltkontrolle durch die Regulierungsbehörde zukunftsgerichtet ist.

Doch noch Luxemburg?

Der BGH bleibt mit dieser Entscheidung seiner Linie treu, die er in derselben Sache in seinem ursprünglichen Vorlagebeschluss zum EuGH vom 7.6.2016 bereits herausgearbeitet hatte. Allerdings bleibt abzuwarten, ob nicht auch die Frage der Anwendbarkeit von Kartellrecht auf regulierte Preise noch den EuGH beschäftigen wird. Dafür könnte die vom BGH erwähnte Ankündigung eines beabsichtigten Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts (LG) Berlin im Verfahren 16 O 556/16 Kart sowie des Kammergerichts im Verfahren 2 U 7/18 Kart sprechen.

Ansprechpartner*innen: Dr. Christian Jung/Dr. Anna Lesinska-Adamson/Tillmann Specht

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