„Eine Brücke, um erneuerbare Moleküle schrittweise in das Energiesystem zu integrieren“: Ein Gespräch mit Stefan Judisch

Energieblog: Sehr geehrter Herr Judisch, wenn jemand in der deutschen Energiewirtschaft früher „Gas“ sagte, war jedem klar, dass es um Erdgas geht und es wurde nur noch gefragt, ob H- oder L-Gas. Inzwischen haben sich alle auch an den Begriff LNG gewöhnt. Bei Ihnen liest man nun aber auch immer wieder von „e-NG“. Was ist damit gemeint?

Stefan Judisch: e-NG ist klimaneutrales synthetisches Methan, das chemisch identisch mit herkömmlichem Erdgas ist. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass e-NG ein vollständig erneuerbares und klimaneutrales Molekül ist. Es wird aus grünem Wasserstoff und klimaneutralem CO₂, beispielsweise aus biogenen oder anderen Quellen wie z.B. Direct Air Capture, hergestellt. Es ermöglicht eine sofortige Reduktion von fossilen CO₂-Emissionen und unterstützt damit den Aufbau einer defossilisierten Energieversorgung, ohne bestehende Systeme abrupt abzuschaffen. Denn es hat den Vorteil, dass damit die volkswirtschaftlichen Kosten der Transformation über einen längeren Zeitraum gestreckt werden können.

Energieblog: Wer Ihnen e-NG abkauft, kann das also ganz normal in seinen bestehenden Anlagen weiterverwenden, ohne dass es zu technischen Anpassungen kommen muss?

Stefan Judisch: Genau. Da es chemisch Methan ist, kann es in der bestehenden Gasinfrastruktur ganz normal eingesetzt werden. Dies ermöglicht eine Beimischung oder den 1:1-Ersatz von fossilem Gas. Aber auch mit Blick auf die politischen Ziele einer deutschen Wasserstoffwirtschaft ist e-NG interessant: Es ist ideal, um die alte mit der neuen Gaswelt zu verknüpfen.

Energieblog: Wie meinen Sie das?

Stefan Judisch: Stellen Sie sich den Einsatz von e-NG als eine Brücke vor, um erneuerbare Moleküle schrittweise in das Energiesystem zu integrieren, bis die reine Wasserstoffwirtschaft vollständig etabliert ist. Eine der größten Herausforderungen ist, dass Wasserstoff eigentlich ein komplettes neues Ökosystem braucht, von der Wasserstofferzeugung über ein dezidiertes Wasserstoffnetz hin zu wasserstofffähigen Verbrauchern. Alles müsste am besten gleichzeitig fertig sein und jeder muss sich auf jeden verlassen können. e-NG löst dieses Problem, weil wir zeitliche Puffer ins System bringen. Die Anlage ist noch nicht auf Wasserstoff umgerüstet? Dann bringen wir den Wasserstoff halt als e-NG weiterhin. Der Anschluss an das Wasserstoffnetz lässt auf sich warten? Wir liefern e-NG über das bestehende Erdgasnetz und spalten es beim Kunden wieder auf in Wasserstoff und biogenes CO2. Das Gleiche gilt für Import und Speicherung: Im Gegensatz zu reinem Wasserstoff zeichnet sich e-NG durch eine höhere Energiedichte und niedrigere Verflüssigungstemperaturen aus, was die Transportkosten über längere Distanzen (und auch die Speicherkosten) erheblich reduziert. Wenn das Wasserstoffökosystem erstmal etabliert ist, kann die Rück-Aufspaltung in Wasserstoff und biogenes CO₂ auch am Importhafen oder am Speicherausgang erfolgen.

Energieblog: Und das rechnet sich am Ende?

Stefan Judisch: Sie können sich vorstellen, dass wir die Frage oft hören. Aber ja, es rechnet sich am Ende. Allerdings muss man ein bisschen differenzieren:

Volkswirtschaftlich besteht der Kostenvorteil darin, dass durch die Nutzung bestehender Infrastrukturen und Endanwendungen e-NG die Gesamtkosten der Transformation der Dekarbonisierung im Vergleich zu Alternativen reduziert oder zumindest streckt (man denke nur an die Diskussionen um die vorzuziehenden Abschreibungen auf die Gasnetze!). Man muss nicht im Hauruck-Verfahren neue Speicher- und Verteilsysteme aufbauen, sondern kann e-NG in den bestehenden Erdgasnetzen und -speichern sowie bestehenden Brennern und Industrieprozessen ohne Umstellung verwenden. Und auch gegenüber einer direkten Elektrifizierung, die umfassende Investitionen in Stromnetze erfordert, bietet e-NG klare Kostenvorteile.

Betrachtet man die Situation auf der Kundenseite, gehen wir davon aus, dass auch bei einer Rückumwandlung in Wasserstoff e-NG wettbewerbsfähig bleiben kann. Dank seiner hohen Energiedichte und bestehenden Infrastruktur ist es in der Lage, unter bestimmten Szenarien auch hier Kostenvorteile zu bieten. Aber natürlich zeigt e-NG bei direkter Endnutzung die klarsten Vorteile und vermeidet die zusätzlichen Energieverluste, die bei der Rückumwandlung auftreten würden.

Energieblog: Wie ordnet sich e-NG denn in die großen Diskussionen rund um Carbon Management Strategien und CCU/CCS ein?

Stefan Judisch: Wie schon beschrieben, kann man e-NG unterschiedlich einsetzen. Wenn es vor allem als Transportmedium dient, wir es also vor der Nutzung wieder in Wasserstoff und biogenes CO2 aufspalten, gehört es natürlich in die Diskussion hinein. Wenn das CO2 aufgefangen und zurückgeleitet wird, um es später wieder zur Methanisierung einzusetzen, entsteht ein geschlossener Kreislauf, den wir sehr spannend finden und der für uns auch Carbon Management im reinsten Sinne ist.

CCU/CCS wird aber normalerweise anders diskutiert, nämlich unter dem Gedanken einer Lebensverlängerung für fossile Kraftwerke oder eines fossilen Lock-in. Hier ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass e-NG gerade kein Erdgas ist, sondern aus der Wasserstoffwelt kommt. e-NG nutzt nur bestehende Infrastrukturen, um die Emissionsreduktion zu beschleunigen. Statt die Wasserstoffwirtschaft zu bremsen, ermöglicht e-NG vielmehr deren schrittweisen Aufbau, ohne auf teure, neue Netze angewiesen zu sein. Dies ist besonders relevant, da für e-NG nur 10 % in den Methanisierungsprozess und die restlichen 90% direkt in die Wasserstoffwirtschaft investiert werden.

Energieblog: Am Anfang von e-NG steht immer Wasserstoff in Ihren Ausführungen. Dessen Quelle ist ja eine der Gretchenfragen der Transformation.

Stefan Judisch: Das ist richtig. Natürlich wäre es schön, wenn wir den Wasserstoff für unsere Industrie und alle anderen Anwendungen hier vor Ort produzieren könnten, aber das ist nicht realistisch. Das heimische Produktionspotenzial für grünen Wasserstoff reicht bei weitem nicht aus, um den erwarteten Bedarf zu decken. Schon 2030 wird bis zu 70 % des Wasserstoffbedarfs importiert werden müssen. Das bedeutet aber auch, dass Importe mittels Pipelines und Schiffen uns den Zugang zu günstigeren Produktionskosten ermöglichen, etwa aus Regionen mit besseren Bedingungen für Wind- und Solarenergie. Und genau hier kann e-NG helfen, den Transport zu uns deutlich zu erleichtern.

Energieblog: Vielen Dank für die Erläuterungen und Ihre Zeit!

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