Zwischen Anspruch und Realität: Die juristische Natur des Koalitionsvertrags
Nun ist er da, der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD, und abgesehen von den Inhalten – die wir nach und nach auf diesem Blog und natürlich auf unserer Jahreskonferenz veröffentlichen werden – stellt sich die Frage: Was ist das eigentlich, so ein Koalitionsvertrag?
Gibt es einen Anspruch auf Umsetzung?
Kann man zum Beispiel auf den Bürokratieabbau klagen, vielleicht sogar im Eilverfahren? Oder auf die Einführung eines Industriestrompreises? Und wenn er nicht kommt, wie gewünscht, gibt es dann Schadenersatz?
Die Antwort ist eindeutig: Leider nein!
Und um das gleich zu sagen: Dabei kommt es auch nicht darauf an, wer klagen will. Es ist kein Vertrag zugunsten Dritter, aus dem dann Bürgerinnen und Bürger oder Unternehmen auf Entlastungen oder Förderungen klagen können. Es ist ja „nicht mal“ ein richtiger (rechtlich durchsetzbarer) Vertrag zwischen den Koalitionspartnern.
Warum dann einen Koalitionsvertrag schließen?
Vereinfacht gesagt: Um sich politisch zu koordinieren und „Macht“ auszuüben.
Die erste Koordinationsaufgabe ist die zur Wahl des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin nach Art. 121 GG. Dafür braucht es die absolute Mehrheit der Stimmen (die sogenannte Kanzlermehrheit). Außer in den Jahren 1957 bis 1961 hat noch nie eine Fraktion die absolute Mehrheit im Bundestag erreicht, in der Regel sind für diese Kanzlermehrheit die Stimmen der Abgeordneten mindestens zweier Fraktionen erforderlich. Doch wie kann die stimmenmäßig kleinere Fraktion, die den Kanzler ins Amt hievt, sicher sein, dass auch ihre Interessen in der späteren Regierung gewahrt bleiben? Über den Koalitionsvertrag. Und eine gewisse (öffentliche politische) Bindung ist schon ganz gut, immerhin stellt die stimmenmäßig größte Fraktion in der Regel den Bundeskanzler – der dann von Verfassung wegen immerhin allein entscheidet, wer Bundesminister wird (Art. 64 GG). Der Koalitionsvertrag bringt die notwendige Sicherheit. Er enthält sozusagen die Bedingungen für die Wahl der Bundeskanzlerin bzw. des Bundeskanzlers (wobei es natürlich kein Geheimnis ist, dass es diesmal ein Kanzler wird).
Und was steht drin?
Nach einem mehr oder weniger schmissigen Titel (diesmal: „Verantwortung für Deutschland“) kommt zunächst eine Präambel, die einen Grundkonsens festhält.
Anschließend definieren die Koalitionsparteien die für die Legislaturperiode wichtigen Inhalte und Ziele, nach Themen sortiert. Das kann abstrakt (z.B. mit einem Handlungsrahmen) oder sehr konkret (z.B. mit einem Gesetzesvorhaben) geschehen. Gibt es bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen zu manchen Themen ganz unterschiedliche Auffassungen, ist dies auch die richtige Gelegenheit, sich auf einen gemeinsamen Weg festzulegen. Doch so wichtig das Aushandeln von Konsens ist, so muss man auch aufpassen, dass nicht die Koalitionsverhandlungen bereits der Höhepunkt der Politik sind. Wolfgang Schäuble sprach mal davon, dass das reine Abarbeiten von Koalitionsverträgen nur mehr Bürokratie sei und wenig mit politischer Führung und Charisma zu tun habe.
Überaus spannend ist auch die Frage, welche Parteien welche Ressorts in der Regierung übernehmen. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Neben den vielen inhaltlichen Punkten dürfen auch prozedurale Regelungen für den Fall nicht fehlen, dass sich die Koalitionspartner einmal uneinig sein sollten: So ist es kein Zufall, dass die Abgeordneten einer Koalition stets einheitlich abstimmen – auch wenn sich das thematisch nicht immer ganz nachvollziehen lässt. Um stabile Mehrheiten zu wahren, sieht der Koalitionsvertrag ein einheitliches Abstimmungsverhalten vor – auch für solche Themen, die nicht Gegenstand des Koalitionsvertrages sind. Drum prüfe, wer sich ewig bindet … Apropos ewig: Der Koalitionsvertrag gilt natürlich nur für die Dauer der Legislaturperiode. Danach kann jeder wieder seine (eigenen parteipolitischen) Wege gehen.
Und wenn es nicht mehr läuft?
Doch was passiert, wenn sich eine Fraktion nicht an den im Koalitionsvertrag mühsam gefundenen Konsens hält? Wie verbindlich sind die gefundenen Regelungen für die Vertragsparteien? Die Rechtsnatur und Verbindlichkeit eines Koalitionsvertrages sind umstritten. Zwar ist man sich weitgehend einig, dass der Koalitionsvereinbarung – wegen der beteiligten Akteure und der getroffenen Regelungen – ein verfassungsrechtlicher Charakter zukommen muss. Gerichtlich einklagbar ist sie aber nicht. Denn aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Natur ist der Weg zu den Verwaltungsgerichten verschlossen. Und das Grundgesetz sieht in seinem abschließenden Zuständigkeitskatalog in Art. 94 für das Bundesverfassungsgericht den Streitgegenstand „Koalitionsvertrag“ nicht vor. Damit sind die gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem Koalitionsvertrag nicht gerichtlich durchsetzbar.
Das hat man beim Bruch der Ampel gesehen: Natürlich hat niemand geklagt. Aber die Wirkungen eines Bruchs sind trotzdem in der Öffentlichkeit relevant. Kein Partner lässt sich gern „Wortbruch“ oder politische Unzuverlässigkeit vorwerfen – zumal das Auswirkungen auf die Entscheidung bei der nächsten Wahl haben kann (und natürlich hatte).
Zugleich darf der Koalitionsvertrag aber auch nicht als Korsett verstanden werden (wie es Wolfgang Schäuble befürchtete), das die Handlungsmöglichkeiten in einer Legislaturperiode beschränkt. Grundsätzlich gilt: Vom Koalitionsvertrag darf immer dann abgewichen werden, wenn sich die Partner einig sind oder unvorhergesehene Ereignisse dies notwendig machen. Hier gleicht der Koalitionsvertrag letztlich dann doch klassischen rechtlichen Verträgen.
Ansprechpartner:innen: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Christian Dessau