Abschaltbare Lasten: Vorläufiges Ende eines wichtigen Flexibilitäts-Instruments

Der Ukraine-Krieg setzt die europäische und deutsche Energiewirtschaft einem Stresstest aus, wie es ihn – wenn überhaupt – das letzte Mal vor mehr als 40 Jahren in Zeiten der Ölkrise gegeben hat. Um mit den dynamischen Entwicklungen Schritt zu halten, ist mehr denn je Flexibilität im Denken und Handeln gefordert. In den jüngsten Entwicklungen ging dabei fast unter, dass eine schon vor Jahren in das Energiesystem aufgenommene Flexibilität just in diesen Tagen Geschichte sein wird: die Verordnung über Vereinbarungen zu abschaltbaren Lasten (AbLaV).

Abschaltbare Lasten – worum geht‘s?

Ein Teil der großen Industriekunden in Deutschland ist technisch im Stande, bei entsprechenden Lastentwicklungen im Netz ohne Schäden für die eigene Produktion auf Anforderung des Übertragungsnetzbetreibers hin den Stromverbrauch vorläufig zu drosseln und so das Stromnetz zu entlasten.

Die grundlegenden Rahmenbedingungen für solche Abschaltungen wurden Ende 2012 in der AbLaV festgelegt. Stand heute sind mehr als 1.750 MW unter jener Verordnung und den dazu festgelegten technischen Anforderungen der Übertragungsnetzbetreiber präqualifiziert. Dabei werden zum Teil auch die vorhandenen Lastpotenziale von Industriekunden durch sogenannte Aggregatoren wie Entelios gebündelt und vermarktet. Auch wenn ihnen die gesamte präqualifizierte Kapazität nicht permanent zur Verfügung steht, haben Übertragungsnetzbetreiber seit Einführung der AbLaV bis zum heutigen Tage in kritischen Situationen in immerhin mehr als 450 Fällen Abrufe vorgenommen.

(Zunehmend) Wichtiges Instrument mit eingebauter Halbwertszeit

Ursprünglich war die AbLaV bis zum 31.12.2015 befristet. Der Verordnungsgeber hatte sich vorbehalten, die technische und wirtschaftliche Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme zu überprüfen. Der Evaluierungsbericht von 2015 zog dann auch ein eher kritisches Zwischenfazit. Dennoch wurde die Verordnung zunächst Ende 2015 kurzfristig um ein halbes Jahr verlängert. Dabei sollten dann eventuell auch kleinere Unternehmen abschaltbare Lasten anbieten können. Eine weitere Fristverlängerung gab es dann im Sommer 2016. Bis zum 30.6.2022 sollte die Fortentwicklung durch die damalige Bundesregierung nun gelten.

Im Rahmen des zweiten Evaluierungsberichts von Ende 2021 äußerten die Übertragungsnetzbetreiber zuletzt, „dass die abschaltbaren Lasten sich im Rahmen der Systembilanzstützung als hilfreich erwiesen“ und „insbesondere im ersten Halbjahr 2020 […] bei schnell ansteigendem Regelleistungsbedarf und hoher Frequenzabweichung als Ergänzung zur Regelleistung gedient hätten“. Damit übereinstimmend konstatierte auch die Bundesnetzagentur (BNetzA), „dass die abschaltbaren Lasten nach AbLaV geeignet sind und in Ausnahmesituationen […] auch erforderlich waren, um Gefährdungen oder Störungen der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Stromversorgungssystems zu beseitigen“. Sie hielt daher eine Weiterführung der AbLaV für „grundsätzlich […] vertretbar“, obwohl sie zugleich kritisch anmerkte, dass „die AbLaV mit dem Ziel einer Erhöhung des Wettbewerbsgedankens und der Steigerung der Kosteneffizienz weiterzuentwickeln“ sei.

Keine Folgeregelung in Sicht

Mit Blick auf das lange feststehende Auslaufen der AbLaV verhandelten Vertreter des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), der BNetzA, der Industrie (einschließlich Aggregatoren) und der Übertragungsnetzbetreiber monatelang intensiv über eine Nachfolgeregelung. Dies geschah vor dem Hintergrund des im aktuellen Evaluierungsbericht explizit bescheinigten positiven Systembeitrags dieses Instruments und der Tatsache, dass es gerade im ersten Halbjahr 2022 immer häufiger zu Abschaltungen durch die Übertragungsnetzbetreiber auf der Grundlage der AbLaV gekommen war. So zum Beispiel am 8.4.2022, an dem in einem sprichwörtlichen Großeinsatz rund 90 Prozent aller verfügbaren abschaltbaren Lasten abgerufen wurden.

Angesichts der zuletzt sehr dynamischen Entwicklungen waren entsprechend auch die Übertragungsnetzbetreiber gewillt, die Entwicklung eines Nachfolgeprodukts für abschaltbare Lasten zu unterstützen – wenn auch mit strikteren Anforderungen an Verfügbarkeiten und Abschaltgeschwindigkeiten, die von Industrieseite als deutlich zu weitgehend kritisiert wurden. Das hierzu von den Übertragungsnetzbetreiber am 22.4.2022 veröffentlichte Whitepaper wurde jedoch nicht umgesetzt.

Auch die von einem breiten Industriebündnis aus dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dem Verband der Chemischen Industrie (VCI), der WirtschaftsVereinigung Metalle (WVM) sowie dem Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) geforderte Verlängerung der Bestandsregelungen blieb aus. So läuft die Regelung nun ohne Nachfolgebestimmungen aus.

Quo vadis abschaltbare Lasten?

Ob, wann und wie genau es mit den abschaltbaren Lasten weiter geht, ist derzeit ungewiss. Dies ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen für die handelnden Akteure eine missliche Situation. Ob die sich nun ergebende Lücke von immerhin mehr als 1.750 MW präqualifizierter Leistung durch andere Systemdienstleistungen geschlossen werden kann, erscheint bei tendenziell rückläufigen steuerbaren Kraftwerkskapazitäten im Markt fraglich. Auch für die Industrie ist der ungewisse Umgang mit Lastabschaltungen in Zeiten generell hoher Unsicherheit in der Energieversorgung sehr unbefriedigend. Nachdem durch die Exportbeschränkungen Russlands schon auf der Gasseite Ungemach droht, wäre es für die Energiebranche und auch die Industrie ein wichtiges Signal, jedenfalls für die Abschaltung von Lasten Planungssicherheit zu erhalten.

Trotz der unbestreitbaren Vielzahl und Bedeutung weiterer energiewirtschaftlicher Großbaustellen bleibt zu hoffen, dass das Thema abschaltbare Lasten nicht vergessen und eine verlässliche Fortschreibung dieses wichtigen Flexibilitäts-Instruments schnellstmöglich nachgeholt wird.

Ansprechpartner*innen: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Tigran Heymann/Dr. Christian Dessau

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