Digitalisierung und Green Deal: Aktuelle Entwicklungen im europäischen Kartellrecht
Mit wichtigen Neuerungen hat der europäische Gesetzgeber das Kartellrecht fit für den Green Deal und den Umgang mit digitalen Unternehmen gemacht. Ein Überblick.
Aktualisierung der Bekanntmachung über die Abgrenzung des relevanten Marktes
Die Abgrenzung von Märkten in sachlicher, räumlicher und ggf. zeitlicher Hinsicht ermöglicht eine Einordnung der waltenden Wettbewerbskräfte. Deshalb ist sie in aller Regel Ausgangspunkt der Beurteilung kartellrechtlich relevanter Sachverhalte im Bereich der Kartell- und Missbrauchsaufsicht sowie der Fusionskontrolle. Am 8.2.2024 hat die Europäische Kommission – erstmals seit 1997 – die Bekanntmachung über die Abgrenzung des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Union überarbeitet und am 22.2.2024 im Amtsblatt veröffentlicht.
Sie dient als Orientierungshilfe über die Marktabgrenzung, welche die Kommission in der Praxis vornimmt. Die Aktualisierung berücksichtigt die Entwicklungen in den letzten Jahren in den Bereichen der Digitalisierung und neuer Formen des Waren- und Dienstleistungsangebots wie den zunehmend vernetzten und globalisierten Handel. Zentrale Kriterien der Marktabgrenzung bleiben die Nachfrage- und die Angebotssubstituierbarkeit. Für die Nachfragesubstituierbarkeit kann und soll weiterhin auf quantitative Bewertungen wie den SSNIP-Test („small but significant non-transitory increase in price“) zurückgegriffen werden, mit dem ermittelt werden kann, auf welche Produktangebote die Marktgegenseite im Falle von Preiserhöhungen ausweicht. Neuerdings sollen neben preislichen Parametern aber auch weitere, für Kunden relevante Wettbewerbsparameter wie Innovation, Qualität, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit entscheidend sein. Die Kommission stellt auch klar, wann sie sich nicht verpflichtet sieht, den SSNIP-Test anzuwenden: Wenn Unternehmen über andere Parameter als den Preis, wie zum Beispiel das Qualitäts- oder Innovationsniveau, konkurrieren.
Ergänzend wird nun auch das Vorgehen bei der Marktdefinition in besonderen Marktkonstellationen erläutert, zum Beispiel bei mehrseitigen digitalen Märkten und innovationsintensiven Wirtschaftszweigen. Schließlich enthält die Aktualisierung Erläuterungen, wann die Kommission die Marktabgrenzung offenlassen kann.
Das Vereinfachungspaket für die Fusionskontrolle
Auf dem Gebiet der Zusammenschlusskontrolle nahm die Kommission bereits im April 2023 ein Paket von Rechtsakten an, welche die Verfahren zur Prüfung von Zusammenschlüssen vereinfachten. Es umfasste die überarbeitete Durchführungsverordnung (EU) 2023/914 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, eine Bekanntmachung der Kommission über die vereinfachte Behandlung bestimmter Zusammenschlüsse gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 und eine Mitteilung gemäß Artikel 3 Absatz 2, Artikel 13 Absatz 3, Artikel 20 und Artikel 22 der Durchführungsverordnung (EU) 2023/914 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 zur Übermittlung von Unterlagen. Ziel des Pakets war es, Aufwand und Kosten für Unternehmen, Berater und die Kommission zu reduzieren, die Prüfung von unproblematischen Zusammenschlüssen zu vereinfachen und auszuweiten und die Berichtspflichten um 25 Prozent zu verringern.
Anpassung der Horizontal- und Vertikalleitlinien an den Green Deal
Im Juli 2023 hat die Kommission die Leitlinien zur Anwendbarkeit des Artikels 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit und zuvor bereits im Juni 2022 die Leitlinien für vertikale Beschränkungen zu der wettbewerblichen Beurteilung von kartellrechtlichen Vereinbarungen aktualisiert. Die Leitlinien geben Aufschluss darüber, unter welchen Voraussetzungen eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen eine Kartellabrede i.S.d. Art. 101 AEUV darstellt.
Die Anpassungen sind insbesondere auf die Ziele des Green Deals ausgerichtet. Sie sagen u.a. aus, wie die gängigsten Formen von Vereinbarungen nach Art. 101 AEUV zu bewerten sind, wenn damit Nachhaltigkeitsziele verfolgt werden. Neu ist, dass mit einem sogenannten Soft-Safe-Harbour ein informeller geschützter Bereich geschaffen wird. Im Rahmen von horizontalen Vereinbarungen auf derselben Vertriebsstufe gilt der Schutz für Normvereinbarungen. Sind die Voraussetzungen des Soft-Safe-Harbours erfüllt, geht die Kommission davon aus, dass diese Vereinbarungen keine spürbaren negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb haben dürfen und zulässig sind. Für vertikale Vereinbarungen soll der Soft-Safe-Harbour dann gelten, wenn die Anteile des Anbieters und Abnehmers an den relevanten Märkten jeweils nicht mehr als 30 Prozent betragen.
Zudem beschreiben die Vertikalleitlinien, wann Abnahmeverpflichtungen im Energiesektor wettbewerbsfördernde Auswirkungen in Form von Effizienzgewinnen haben und nach Art. 101 Abs. 3 AEUV von dem Kartellverbot ausgenommen werden. Dies kann dann der Fall sein, wenn langfristige Abnahmevereinbarungen erforderlich sind, damit Investitionen von einer gewissen Größenordnung in erneuerbare Energien getätigt werden. Das entspricht zwar schon dem früher geltenden kartellbehördlichen Verständnis, dass lang laufende Abnahmeverpflichtungen durch die Notwendigkeit der Amortisation hoher Investitionen gerechtfertigt sein können, überträgt es aber explizit auch in das Zeitalter der erneuerbaren Energien und dürfte vor allem für langfristige PPA-Verträge relevant werden.
Digital Markets Act: Materielle Pflichten der Internetgiganten
Schließlich hat der europäische Gesetzgeber einen bedeutenden Rechtsakt erlassen, der auch den Schutz des Wettbewerbs bezweckt: Mit dem Digital Markets Act (DMA), der im Mai 2023 in Kraft getreten ist, soll die Machtausweitung der größten Digitalplattformen begrenzt werden. Neben dem Digital Service Act (DSA), dem Data Act, dem Artificial Intelligence Act, dem Cyber Resilience Act und der ePrivacy-Verordnung ist er zentraler Teil des ambitionierten Vorhabens, digitale Dienste zu regulieren.
Der DMA tritt neben die klassischen kartellrechtlichen Instrumente, die den Plattformen bislang vor allem aufgrund langwieriger Verfahren nicht wirklich Einhalt gebieten konnten. Der DMA sieht für zentrale Plattformdienstleistungen die Ernennung sogenannter Torwächter („Gatekeeper“) vor, denen bestimmte Verhaltenspflichten („Dos and Don’ts“) zukommen. Diese Verpflichtungen sollen sicherstellen, dass die Märkte, auf denen die Gatekeeper tätig sind, bestreitbar und fair sind und dies auch bleiben. Anders als im klassischen Kartellrecht ist hier keine Benachteiligung des Wettbewerbs erforderlich.
Im vergangenen September wurden die ersten Gatekeeper ernannt; es handelt sich um Alphabet (u.a. Google und YouTube), Amazon, Apple, ByteDance (u.a. TikTok), Meta (u.a. Facebook, Instagram und WhatsApp) und Microsoft. Ein Antrag auf Aussetzung der Dos and Don’ts von ByteDance (u.a. TikTok) hat das europäische Gericht zurückgewiesen. Seit März greifen die Dos and Don’ts.
Es bleibt abzuwarten, ob sich die Big-Tech-Unternehmen an diese Verpflichtungen halten – Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager hat das vor Kurzem bezweifelt. Gegen Alphabet, Apple und Meta hat die Kommission bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten des DMA Verfahren eröffnet.
Ansprechpartner*innen: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Tigran Heymann/Dr. Holger Hoch