Konzernhaftung auch beim Kartellschadensersatz?

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(c) BBH
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Mittlerweile sind mehr als zehn Jahre vergangen, seit der EuGH in seinem epochalen Urteil Courage vs. Crehan die europarechtliche Grundlage für direkte Schadensersatzansprüche von Kartellgeschädigten gegen Kartellanten gelegt hat. Doch die Anzahl der zivilrechtlichen Schadenersatzklagen hat bisher nur langsam zugenommen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich – sicher ist jedoch, dass eine sorgfältige Geschäftsführung verlangt, mögliche Schadensersatzansprüche erst einmal gründlich zu prüfen. Für kartellgeschädigte Unternehmen stellt sich dann die Frage, gegen welche Unternehmen sie ihre Forderungen richten sollen. Denn neben dem eigenen Lieferanten bzw. Abnehmer könnte dafür vor allem auch deren jeweilige Muttergesellschaft in Betracht kommen. Letztere ist für den Kläger sogar besonders interessant, nicht zuletzt deshalb, weil sie regelmäßig ausreichend kapitalisiert sein wird. Bei den operativ in das Kartell verwickelten Tochtergesellschaften ist das nicht immer der Fall.

Gerade langfristig praktizierte, branchenweite Kartelle, die hohe Schäden verursacht haben, werfen deshalb eine Grundsatzfrage auf, die vor allem in ihrer zivilrechtlichen Dimension nach wie vor höchstrichterlich nicht geklärt ist – und das ist die nach der Haftungszuordnung im Konzern.

Dabei geht es einerseits darum, ob die Kartellverstöße der Tochter ihrer Muttergesellschaft zuordenbar sind und letztere dann ebenfalls gesamtschuldnerisch das Bußgeld schuldet. Andererseits stellt sich die Frage der Gesamtschuldnerschaft auch gegenüber den Kartellopfern, die zivilrechtlich Ausgleich ihrer Schäden verlangen. Im deutschen Schrifttum wird letzteres mehrheitlich mit Verweis auf das so genannte Trennungsprinzip verneint. Ein aktuelles Urteil des Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)vom 8.5.2013 in Sachen Eni SpA ./. Kommission gibt erneut Anlass diese vorherrschende Literaturansicht zu hinterfragen.

Hintergrund: Die EU-Kommission hatte am 29.11.2006 Geldbußen in Höhe von insgesamt 519 Mio. Euro gegen 13 Unternehmen verhängt, die an einem Kartell auf dem Markt für Butadienkautschuk (BR) und Emulsionsstyrol-Butadienkautschuk (ESBR) beteiligt waren. 272,25 Mio. Euro Geldbuße verhängte sie gegen die Eni SpA und ihre 100%ige Tochtergesellschaft Polimeri Europa SpA (später Versalis SpA). Das Gericht der Europäischen Union (EuG) setzte mit Urteil vom 13.7.2011 die gegen Eni SpA verhängte Geldbuße auf 181,5 Mio. Euro herab und wies die Klage von Eni SpA im Übrigen ab. Das auf die Aufhebung des Urteils des EuG gerichtete Rechtsmittel hat der EuGH nun am 8.5.2013 zurückgewiesen.

„Wirtschaftliche Einheit“ als Adressat der kartellrechtlichen Verbotsnormen

Zur Begründung seiner Entscheidung verweist der EuGH auf seine ständige Rechtsprechung. Danach könne im Rahmen der Anwendung von Art. 101 AEUV das Verhalten einer Tochtergesellschaft ihrer Muttergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht eigenständig bestimme, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolge. In einem solchen Fall seien die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit und damit ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV. Unklar ist jedoch, ob neben der wirtschaftlichen Tätigkeit der Tochtergesellschaft auch erforderlich ist, dass die Muttergesellschaft selbst wirtschaftlich tätig ist (vgl. die ablehnenden Schlussanträge in der Rs. Portielje).

Europarechtlich gilt im Kartellrecht seit dem EuGH-Urteil Akzo Nobel NV u.a. 3 ./. Kommission vom 10.9.2009 eine widerlegbare Vermutung dafür, dass die Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft bestimmenden Einfluss ausübt, wenn sie (unmittelbar oder mittelbar über eine Zwischengesellschaft) deren gesamtes oder nahezu gesamtes Kapital hält. Diese Vermutung greift nach Ansicht des Gerichtshofes auch bei Eni SpA, weil diese als Konzernmutter über die gesamte Dauer der Zuwiderhandlung unmittelbar oder mittelbar mindestens 99,97 Prozent des Kapitals der Gesellschaften, die in den Geschäftsbereichen Butadienkautschuk und Emulsionsstyrol-Butadienkautschuk tätig waren, gehalten hat. Um die daraus folgende Beherrschungsvermutung widerlegen zu können, hätte Eni SpA nachweisen müssen, dass ihre Tochtergesellschaft Versalis SpA nicht nur auf operativer, sondern auch auf finanzieller Ebene völlig eigenständig handeln konnte. In der Praxis gelingt das nur sehr schwer (zur Korrektur der extensiven Konzernhaftung im Bußgeldrecht wegen mangelnder Begründung der Kommission vgl. Urteil v. 29.9.2011).

Damit hat der EuGH für die ordnungswidrigkeitenrechtliche Haftung im Konzern seine bisherige Linie bestätigt.

Spannender ist freilich die Frage, ob auf diese Weise das kartellrechtswidrige Verhalten der Tochtergesellschaft der Mutter auch zivilrechtlich zugerechnet werden kann. Mit anderen Worten: Kann ein Kläger seinen kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch nach § 33 Abs. 3 GWB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 81 EG bzw. Art. 101 AEUV auch gegen die Muttergesellschaft richten, wenn dieser kein eigener Kartellrechtsverstoß durch die Kartellbehörde nachgewiesen worden ist?

Das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip 

Hiergegen wird im deutschen Schrifttum ganz überwiegend das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip vorgebracht. Das Trennungsprinzip geht strikt davon aus, dass es sich bei einer juristischen Person und ihren Gesellschaftern um eigenständige Rechtspersönlichkeiten handelt. Gegenüber ihren Gläubigern haftet allein die juristische Person mit ihrem eigenen Vermögen. Ein Haftungsdurchgriff auf das Vermögen der Gesellschafter ist nur ausnahmsweise möglich.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte die konkrete Frage, ob im Rahmen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs die Mutter für die Tochter haftet, noch nicht explizit zu entscheiden. In seinem begründete er zwar die zivilrechtliche Haftung der Muttergesellschaft. Allerdings war die Muttergesellschaft in diesem Fall selbst an dem kartellrechtswidrigen Verhalten beteiligt.

Dieser Aspekt spielte für den BGH im Fall Entega keine Rolle. Zu entscheiden war hier über einen Anspruch gegen eine bestimmte Tochtergesellschaft in einem Konzern, missbräuchliches Verhalten zu unterlassen. In der Revisionsinstanz war der BGH an die Anträge und damit an die Parteirollen gebunden. Die Tatbestandsprüfung konzentrierte sich vollständig auf die Beklagte. Um bei ihr einen Verstoß gegen das kartellrechtliche Missbrauchsverbot zu begründen, bejahte der BGH-Kartellsenat ausdrücklich eine Zurechnung subjektiver Tatbestandselemente im Konzern. Kartellrechtlich gelten sämtliche Gesellschaften eines Konzerns als ein einheitliches Unternehmen, und dementsprechend wurden bestimmte Kenntnisse ihrer Mutter- und Schwestergesellschaften der Beklagten zugerechnet. Interessant war die Begründung im Fall Entega. Der BGH stellte darauf ab, dass bei einem anderen Ergebnis Umgehungen des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots Tür und Tor geöffnet wären. Ohne diese kartellrechtsspezifische Zurechnung subjektiver Tatbestandselemente im Konzern könnten geschädigte Kunden die Konzernmutter regelmäßig nicht in Anspruch nehmen, weil das Trennungsprinzip normalerweise nur Ansprüche gegen den jeweiligen Vertragspartner erlaubt.

Im Kartellrecht, so lässt sich aus dem Revisionsurteil weiter folgern, ohne dass der BGH dies explizit ausgesprochen hätte, soll das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip offenbar nicht das letzte Wort haben. Im Kartellrecht sind konzernverbundene Gesellschaften vielmehr als ein einheitliches Unternehmen anzusehen, bei dem es genügt, wenn die Elemente eines Verbotstatbestandes nur bei einzelnen Konzerngesellschaften gegeben sind. Dass das Kartellrecht auf diese Weise auf unternehmerische Einheiten abstellt, findet in der Verbundklausel des § 36 Abs. 2 GWB auch einen normativen Ausdruck. In diesem Zusammenhang stellt der BGH in seiner Entega-Entscheidung ausdrücklich klar, dass § 36 Abs. 2 GWB für den gesamten Anwendungsbereich des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gilt – nicht nur für die Fusionskontrolle.

Damit drängt sich die Frage auf: Wieso soll das anders sein, wenn es um die Haftung auf Schadensersatz wegen Kartellrechtsverletzungen gem. § 33 Abs. 3 GWB geht?

Rezeption des EU-kartellrechtlichen Unternehmensbegriffs im deutschen Recht

Auch das jüngste EuGH-Urteil Eni SpA ./. Kommission weckt Zweifel, ob allein das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip die Konzernmutter vor der Schadensersatzhaftung bewahren kann. Die Eni SpA hatte argumentiert, dass die Zurechnung gegen den Grundsatz der beschränkten Haftung von Kapitalgesellschaften und die allgemeinen Haftungsgrundsätzen verstoße. Dem hält der EuGH sein Urteil in Sachen Akzo Nobel u.a. ./. Kommission entgegen: „Verstößt eine solche wirtschaftliche Einheit gegen die Wettbewerbsregeln, hat sie nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung einzustehen“. Angesichts der spezifischen Entgegnung auf das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip und der sehr offen gehaltenen Formulierung drängt sich der Eindruck auf, dass der EuGH damit nicht nur die Verantwortlichkeit für Geldbußen meint, die von der Europäischen Kommission ohnehin immer unternehmensweit festgesetzt werden, sondern dass er beide Gesellschaften aufgrund wirtschaftlicher Einheit als gleichermaßen verantwortliche Haftungssubjekte sieht – auch für den zivilrechtlichen Schadensersatz.

Da aber deutsche Kartellbehörden/Gerichte, die nach Art. 3 VO (EG) Nr. 1/2003 regelmäßig neben dem GWB das europäische Kartellrecht anzuwenden haben und keine Entscheidungen im Widerspruch dazu fällen dürfen, müssten sie auch bei der Anwendung der Haftungsnorm des § 33 Abs. 3 GWB die wirtschaftliche Unternehmenseinheit als Haftungssubjekt zugrundelegen. Zwar ist bisher unklar, ob man sich in Deutschland in einem zivilrechtlichen Schadenersatzanspruch auch auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Konzernhaftung im Bußgeldrecht berufen kann, erste Ansätze lassen sich aber bereits dafür finden. So hat sich das Oberlandesgericht (OLG) München (Az. U 3283/11 Kart) im Nachgang zum Calciumcarbid-Kartell im Zuge des Gesamtschuldnerinnenausgleiches jedenfalls mit der Übernahme des Begriffes der wirtschaftlichen Einheit beschäftigt und auf die einschlägige Rechtsprechung verwiesen.

Ein solcher Ansatz ist mit dem deutschen Kartellrecht durchaus vereinbar – ja sogar geboten. Wie oben dargestellt, steht spätestens seit dem BGH-Urteil im Fall Entega außer Zweifel, dass die Verbundklausel des § 36 Abs. 2 GWB über die Fusionskontrolle hinaus im gesamten deutschen Kartellrecht Anwendung findet. Stellt nun aber eine Kartellbehörde oder ein Gericht fest, dass sowohl die Tochter- als auch die Muttergesellschaft aufgrund der wirtschaftlichen Einheit für den Kartellrechtsverstoß verantwortlich sind, so erscheint es wegen der in § 33 Abs. 4 GWB und Art. 16 VO 1/2003 statuierten Bindung der Zivilgerichte in Schadensersatzprozessen an Entscheidungen der Kartellbehörden nur konsequent, wenn die Gerichte auch die Rechtsfolgen aus solchen kartellbehördlichen Feststellungen ziehen und eine gesamtschuldnerische Schadensersatzhaftung beider Gesellschaften annehmen.

Der Verweis auf das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip genügt nicht, um ein solches Ergebnis zu verhindern. § 36 Abs. 2 GWB ist im gesamten Kartellrecht die speziellere Norm und damit vorrangig. Ferner wurde eine Durchbrechung des Trennungsprinzips schon in einigen Fallgruppen von den Gerichten anerkannt. Ausnahmen hat man selbst im Gesellschaftsrecht mit dem Argument wirtschaftlicher Einheit und gegenseitiger Zurechnung von Verhaltensweisen zugelassen – so etwa, wenn es Aktionären aufgrund ihrer starken wirtschaftlichen Stellung durch Einflussnahme auf die Willensbildung bei einer AG gelingt, ihre Sonderinteressen durchzusetzen.

Fazit

Der EuGH hat nach europäischem Kartellrecht die Konzernhaftung erneut bestätigt. Die Praxis der deutschen Gerichte und des Bundekartellamtes (BKartA) geht noch in eine andere Richtung; nach deutschem Recht muss die Zurechnung eines Kartellrechtsverstoßes gegenüber jeder Gesellschaft eines Konzerns individuell begründet werden. Auch im deutschen Recht gibt es zwar eine widerlegbare Vermutung für eine Beherrschung im Konzern aufgrund Kapitalmehrheit (§§ 17 Abs. 2, 18 AktG). Herrschende und abhängige Gesellschaften werden von § 36 Abs. 2 GWB auch zu einer unternehmerischen Einheit verklammert. Den logischen Schritt hin zu einer vollständigen zivilrechtlichen Haftungszurechnung gehen die Gerichte jedoch noch nicht. Bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen wird dem allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip in Deutschland noch der Vorrang vor dem spezielleren kartellrechtlichen Verbundprinzip (§ 36 Abs. 2 GWB) eingeräumt.

Zweifel sind jedoch angebracht. Angesichts der gesetzlichen Anordnung in § 36 Abs. 2 GWB ist jedenfalls bei bestimmendem Einfluss der Mutter- auf die Tochtergesellschaft ein konzernweiter Haftungsverbund schwieriger abzulehnen als zu begründen. Kartellrecht – auf EU-Ebene und in Deutschland – setzt nicht bei Gesellschaften an, sondern beim Unternehmen. Es wird Zeit, das kartellrechtliche Verbundprinzip konsequent zu Ende zu denken. Die Rechtsprechung des EuGH lässt sich durchaus in diese Richtung deuten – die Rechtsprechung des BGH ebenfalls.

Ansprechpartner: Dr. Christian Jung/Anne Lesinska-Adamson

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