Die deutsche Wirtschaft zwischen Schwächephase und Transformation

Deutschland galt lange Zeit als einer der stärksten wirtschaftlichen Motoren Europas. Doch die Warnungen von Forschern und besorgniserregende Statistiken nehmen zu. Eine spürbare konjunkturelle Belebung ist voraussichtlich erst zum Jahreswechsel 2023/24 zu erwarten. Diese Entwicklungen treffen Deutschland genau zu einer Zeit, in der zusätzlich die Transformation hin zu einer nachhaltigen Energiewirtschaft gelingen soll.

Die deutsche Industrie braucht Energie

Deutschlands stark industriell geprägte Wirtschaft ist abhängig von zuverlässiger und günstiger Energie. Der Energieverbrauch der Betriebe in der Industrie ist von 2003 bis 2021 um 15 Prozent gestiegen. Wie in den vergangenen Jahren waren im Jahr 2022 die wichtigsten Energieträger in der Industrie Erdgas (30 Prozent), Strom (21 Prozent), Kohle (16 Prozent) sowie Mineralöle und Mineralölprodukte (16 Prozent). Der deutsche Strompreis war bereits 2021 einer der höchsten weltweit, der Anstieg der Preise wurde jedoch durch den Import von günstigem russischem Öl und Gas gebremst: 65,4 Prozent der importierten Gasmenge stammte im Jahr 2021 aus Russland. Für die Zeit der Transformation der deutschen Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit galten Erdgas und insbesondere Erdgas-Kraftwerke als Brückentechnologie. Durch die Möglichkeit des schnellen Hochfahrens können sie Zeiten geringerer Stromerzeugung durch regenerative Energiequellen überbrücken. Dies ist bisher auch deswegen notwendig, weil aufgrund fehlender Speicher und begrenzter Netzkapazitäten Überschüsse aus Wind- und Solarstromerzeugung nicht an anderen Orten oder Zeiten genutzt werden können.

Der Anstieg der Energiepreise infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine traf somit besonders Deutschlands Wirtschaft stark und war insbesondere in energieintensiven Branchen deutlich spürbar. Nachdem schon seit Herbst 2021 die Inflation anstieg, erhöhte sie sich infolge der extrem gestiegenen Energiepreise massiv. Obwohl die EZB mit der schnellsten Zinsstraffung der Geschichte reagierte, sank die Inflation langsamer als erhofft. Im August 2023 stieg der Verbraucherpreisindex mit 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat immer noch wesentlich über den Wert von vor Beginn der Energiekrise im Februar 2022 (5,1 Prozent). Durch die allgemeine Erholung der weltweiten Konjunktur nach dem Ende von Pandemie-Beschränkungen, Synchronisierung der Lieferketten und staatlichen Hilfsprogrammen in Deutschland wie dem Energiekostendämpfungsprogramm, Strom- und Gaspreisbremse sowie der Verlängerung des Spitzenausgleichs für energieintensive Unternehmen bei Strom- und Energiesteuern konnte im Gesamtjahr 2022 dennoch ein leichtes BIP-Wachstum verzeichnet werden. Die Auswirkungen starker Energiepreiserhöhungen, stotternder Weltwirtschaft, nur langsam abfallender Inflation und der steigenden Zinsen kamen somit nur verzögert in der deutschen Wirtschaft zum Vorschein.

Deutschland im Wandel

Doch nun scheint sich für Deutschland das Blatt zu wenden: Wirtschaftliche Frühindikatoren geben aktuell alarmierende Signale. Selbst nachdem sich der Energiepreisschock abgeschwächt hatte, blieben die Energiepreise im Vergleich zu Produktionsstandorten außerhalb Europas weiterhin erhöht, was sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirkte. Während das Ifo-Geschäftsklima bereits seit Anfang 2022 erheblich abnahm, manifestierte sich diese Entwicklung zuletzt auch sowohl im S&P PMI-Index als auch im DIW-Konjunkturbarometer. Nach der wirtschaftlichen Erholung von den Auswirkungen der Covid-Pandemie seit 2021 zeigen beide eine zunehmend absinkende Entwicklung mit einem Sprung in den negativen Wachstumsbereich ab dem 3. Quartal 2022. Trotz weiter nachlassender Lieferengpässe und deutlich sinkender Energiepreise schrumpfte die Industrieproduktion kontinuierlich seit 2021 auf ein 39-Monatstief im August 2023. Aktuellen Prognosen zufolge wird die Industrieproduktion wohl vorerst weiterhin eine schwache Entwicklung haben, da die Nachfrage aus dem Ausland bislang eine rückläufige Tendenz aufwies. Zusätzlich werden voraussichtlich die erhöhten Finanzierungskosten weiterhin auf den Investitionen lasten.

Auf Jahresbasis wird erwartet, dass die Wirtschaft im Jahr 2023 um 0,6 Prozent schrumpft. Dies ist eine Abwärtskorrektur gegenüber dem im Frühjahr prognostizierten Wachstum von 0,9-Prozentpunkte.

Deindustrialisierung als Risiko erkennen und Potenziale für die Transformation mobilisieren

Wenn Deutschland aufgrund dieser Rahmenbedingungen (hohe Energiepreise etc.) seine internationale Wettbewerbsfähigkeit einbüßt, könnten industrielle Investitionen, die für die Umsetzung der Transformation hin zu einer nachhaltigen Energiewirtschaft erforderlich sind, weniger attraktiv werden.

Forderungen aus der Industrie betreffen insbesondere einen Industrie- bzw. Brückenstrompreis, einen beschleunigten Netzausbau, um Strom aus regenerativen Quellen von der Quelle in die Zentren der deutschen Industrie durchleiten zu können, den Erhalt des Spitzenausgleichs, Super-Abschreibungen nach US-amerikanischem Vorbild sowie eine Erhöhung der Versorgungssicherheit, die beispielsweise durch die Erarbeitung einer Wasserstoff-Importstrategie und eine Ausschreibung des Zubaus von Gaskraftwerken erzielt werden kann. Bis auf neue Abschreibungsmöglichkeiten für Wohngebäude wurde auf der jüngsten Kabinettsklausur der Bundesregierung in Meseberg (30.8.2023) jedoch keiner von diesen Vorschlägen auf den Weg gebracht. Auch der Chemie-Gipfel im Bundeskanzleramt endete ohne Zusage für einen Industriestrompreis.

Durch gezielte Entscheidungen kann die deutsche Industrie insbesondere auch die Transformation zur Klimaneutralität erfolgreich mitgestalten.

Ansprechpartner*innen: Prof. Dr. Ines Zenke/Thomas Straßer/Tobias Sengenberger/Carina Bönisch

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