Die 9. GWB-Novelle kommt – Fortschritt für Kartellopfer? (Teil 3)
Zum Abschluss unserer Blog-Reihe zur Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie wollen wir darstellen, was sich in einer ganz zentralen Frage künftig verändert – wer haftet?
Unternehmensbegriff
Die Umsetzung der Richtlinie zwingt den Gesetzgeber dazu, einen ehernen Grundsatz des deutschen Gesellschaftsrechts für das Kartellschadensersatzrecht aufzugeben: das so genannte gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip. Damit ist gemeint, dass Kapitalgesellschaft und ihre Gesellschafter strikt getrennt bleiben und die Pflichten der einen nicht automatisch auch die anderen binden. Das heißt, dass die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft, solange sie nicht selbst schuldhaft ihre eigenen Pflichten verletzen, nicht für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haften. Folglich, so wird von Kartellanten regelmäßig argumentiert, haftet auch nicht die Muttergesellschaft für Kartellverstöße einer Tochter, Enkelin usw.
Nach europäischem Verständnis ist ein Unternehmen demgegenüber eine wirtschaftliche Einheit. Dies erlaubt es unter bestimmten Voraussetzungen mehrere, zu einem Konzern gehörende Unternehmen als ein Unternehmen i. S. d. Art. 101 ff. AEUV zu behandeln. So können der Muttergesellschaft die wettbewerbswidrigen Handlungen der beherrschten Tochtergesellschaften zugerechnet werden, wenn das Unternehmen, das gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen hat, wegen der wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen im Wesentlichen den Weisungen des herrschenden Unternehmens gehorcht. Eine solche Situation vermutet der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei 100%igen Tochtergesellschaften (Urt. v. 10.9.2009, Az. C-97/08 P). Im Bußgeldrecht werden deshalb auf europäischer Ebene Mutter- und Tochtergesellschaften häufig gesamtschuldnerisch belangt.
Nach Art. 1 Abs. 1 der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie richtet sich der kartellrechtliche Schadensersatzanspruch gegen ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung. Damit müssen Kartellopfer in Zukunft auch die Möglichkeit haben, eine solventere Muttergesellschaft des Kartellunternehmens in Anspruch zu nehmen, selbst wenn gegen diese kein Bußgeldbescheid erlassen worden ist.
Nach unserem Verständnis ist dies bereits jetzt schon nach geltendem deutschem Kartellrecht möglich. Die so genannte Verbundklausel des § 36 Abs. 2 GWB, die nicht nur für die Fusionskontrolle, sondern für den gesamten Anwendungsbereich des GWB gilt, erklärt abhängige und herrschende Unternehmen i. S. d. §§ 17, 18 AktG zu einem einheitlichen Unternehmen. Abhängigkeit wird dabei, wie im europäischen Recht, im Fall des Mehrheitsbesitzes vermutet. Dem Wortlaut des § 36 Abs. 2 GWB lässt sich nicht entnehmen, dass die Zurechnung nur „nach oben” (zur Muttergesellschaft hin) stattfinden soll und nicht auch umgekehrt. Vielmehr sind laut Bundesgerichtshof (BGH) der Tochtergesellschaft über § 36 Abs. 2 GWB die Kenntnisse der Muttergesellschaft zuzurechnen, soweit die Tochtergesellschaft ein abhängiges Unternehmen i. S. d. § 17 AktG ist (Urt. v. 23.6.2009, Az. KZR 21/08).
Gesamtschuldnerische Haftung
Kartellanten haften als Gesamtschuldner, d.h. jeder kann durch die Geschädigten auch für den Schaden in Anspruch genommen werden, den andere Kartellanten verursacht haben (§§ 830, 840 BGB). Die Richtlinie wird an dieser Stelle die Situation der Kartellopfer verschlechtern: Die gesamtschuldnerische Haftung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und des Kronzeugen wird beschränkt.
Ob die Privilegierung von KMU, also Unternehmensgruppen mit bis zu 50 Mio. Euro Umsatz und weniger als 250 Mitarbeitern, eine praktische Rolle spielen wird, bleibt abzuwarten. Es dürfte bislang nicht viele Kartellfälle geben, bei denen gegen Unternehmen dieser Größe mit einem Marktanteil von weniger als 5 Prozent (vgl. Art. 11 Abs. 2) überhaupt Bußgelder verhängt worden sind. Im Übrigen ist die Richtlinie hier im Wortlaut misslungen.
Die Kronzeugen werden sowohl im Außen- als auch im Innenverhältnis der Kartellanten untereinander privilegiert. Nach Art. 11 Abs. 4 haften sie im Außenverhältnis nur gegenüber ihren unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmern bzw. Lieferanten gesamtschuldnerisch. Gegenüber anderen Geschädigten haften sie nur, wenn diese von den übrigen Kartelltätern keinen vollständigen Schadensersatz erlangen können. Im Innenverhältnis deckelt Art. 11 Abs. 5 die Haftung des Kronzeugen auf den Schaden, den er seinen eigenen unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmern oder Lieferanten verursacht hat. Diese Privilegierung soll auch für sog. Umbrella-Schäden gelten, also Lieferungen von Kartellaußenseitern zu aufgrund der Kartellabsprachen überhöhten „Marktpreisen“ (Art. 11 Abs. 6).
Insbesondere dass Kronzeugen noch weiter privilegiert werden, ist schwer nachzuvollziehen und deutlich zu kritisieren. Dieser Ansatz mag im Rahmen der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung möglicherweise sinnvoll sein (Bußgelderlass für Aufdeckung des Kartells), aber er lässt sich nicht auf das deliktsrechtliche Privatrechtsverhältnis übertragen, ohne dass hier eine „Gegenleistung“ des Kronzeugen erforderlich ist. Der Gesetzgeber sollte den verbleibenden Umsetzungsspielraum dazu nutzen, die Benachteiligung von Kartellopfern an dieser Stelle nicht zu groß werden zu lassen. Zunächst ist die Privilegierung nach dem insofern eindeutigen Wortlaut in Art. 11 und der Legaldefinition in Art. 2 Nr. 19 auf den wahren Kronzeugen zu beschränken, dem das Bußgeld vollständig erlassen worden ist. Außerdem sollten, wie an anderer Stelle vorgeschlagen, die Beweislast entsprechend verteilt und die Verjährungsfristen angepasst werden.
Außergerichtliche Streitbeilegung
Die Richtlinie zeugt vom Bemühen des europäischen Gesetzgebers, die außergerichtliche Streitbeilegung attraktiver zu machen. Tatsächlich wurden und werden die meisten kartellrechtlichen Schadensersatzverfahren durch Vergleich beigelegt. Häufig ist dies für beide Seiten wirtschaftlich am vernünftigsten. Der Ansatz ist daher zu begrüßen, die Umsetzung leider nicht ganz geglückt. Zu viele Unklarheiten sind im relevanten Art. 19 enthalten.
So muss der Gesetzgeber gewährleisten, dass bei Vergleichen mit einem Kartellanten sich der gesamte Schadensersatzanspruch des Geschädigten um den Anteil des sich vergleichenden Kartellanten an dem Schaden verringert. Was aber ist der Anteil und wie bestimmt sich dieser? Hier sollen einschlägige Kriterien wie Umsatz, Marktanteil oder Rolle im Kartell herangezogen werden (vgl. Erwägungsgrund 37). Sinnvoll erscheint die Orientierung an den Liefer- bzw. Bezugsanteilen der Kartellanten. Wenn die tatsächliche Schadensersatzzahlung jedoch unterhalb dieses Anteils bleibt, kann das Kartellopfer keine vollständige Kompensation mehr erhalten.
Man darf gespannt sein, wie der Gesetzgeber die noch in weiteren Punkten unklaren Regelungen des Art. 19 umsetzt. Insbesondere wird er nicht umhin kommen, Kriterien für die relative Verantwortung der Kartellanten am Schaden zu benennen. Geschädigte, die nach einem Vergleich nur noch den verbleibenden Anspruch geltend machen dürfen, verfügen über keinerlei Informationen zur Ermittlung dieses Anspruchs. Damit sind aber auch Regelungen zu erwarten, die den bislang weitestgehend ungeklärten Innenausgleich zwischen den Gesamtschuldnern bei Kartellen konkretisieren.
Fazit
Die EU-Kartellschadensersatzrichtlinie wird in vielen Mitgliedsländern der Europäischen Union die Position von Kartellopfern erheblich verbessern. Für Deutschland allerdings sollte der Gesetzgeber aufpassen, dass die Umsetzung nicht zu einer deutlichen Verschlechterung für Kartellopfer führt, die an so manchen Stellen in der Richtlinie angelegt ist. Klar ist, dass die Richtlinie aufgrund der eindeutigen Regelung in Art. 22 nicht im Voraus wirkt. Man darf also gespannt sein auf den in Bälde zu erwartenden Referentenentwurf des BMWi.
Ansprechpartner: Dr. Olaf Däuper/Anna Lesinska-Adamson