Zum Urteil des OLG Stuttgart vom 26.3.2020 im Streit um das Fernwärmenetz in Stuttgart (Az. 2 U 82/19): Fragen an den BBH-Partner Matthias Albrecht

© Nanna Heitmann

Der Wegenutzungsvertrag für das Fernwärmenetz der EnBW in Stuttgart ist Ende des Jahres 2013 ausgelaufen. Der ausgelaufene Vertrag enthält keine Regelung darüber, was mit dem Fernwärmenetz nach der Beendigung des Wegenutzungsrechts geschehen soll. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung besteht ebenfalls nicht. Die Regelung in § 46 EnWG, wonach die Gemeinden nach dem Auslaufen eines Wegenutzungsvertrages für Strom- und Gasnetze in einem transparenten und diskriminierungsfreien Verfahren zu entscheiden haben, wer Eigentümer und Betreiber der Netze wird, findet auf Fernwärmenetze keine Anwendung. Das Gleiche gilt für Wasserversorgungsnetze.

Die Landeshauptstadt Stuttgart hat in dem Rechtsstreit mit der EnBW die Auffassung vertreten, dass sie bereits mit dem Auslaufen des Wegenutzungsvertrages Eigentümerin des Fernwärmenetzes in ihren Wegegrundstücken geworden ist. Hilfsweise machte sie geltend, sie verfüge über einen Anspruch auf Übertragung des Eigentums an dem Fernwärmenetz. Äußerst hilfsweise machte sie geltend, die EnBW sei verpflichtet, die Störung des Eigentums der Stadt an den Wegegrundstücken zu beseitigen, die durch das Fernwärmenetz der EnBW verursacht wird.

Die EnBW machte in einer Widerklage geltend, die Stadt sei verpflichtet, ihr erneut ein Wegenutzungsrecht einzuräumen. Die EnBW hat also behauptet, es bestünde ein Kontrahierungszwang zu Lasten der Stadt. Das Oberlandesgericht Stuttgart wies die Widerklage der EnBW ab. Abgewiesen wurden auch der Hauptantrag der Landeshauptstadt Stuttgart, der auf die Feststellung gerichtet war, dass sie bereits mit dem Auslaufen des Wegenutzungsvertrages Eigentümerin des Fernwärmenetzes geworden ist, und der Hilfsantrag der Stadt auf Übertragung des Netzeigentums. Gefolgt ist das OLG Stuttgart aber dem Hilfsantrag der Stadt, wonach die EnBW verpflichtet ist, die Störung des Eigentums an den Wegegrundstücken zu beseitigen, die durch das Fernwärmenetz verursacht wird.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat das Urteil in einer Presseerklärung als Patt zwischen den Parteien bezeichnet. Wir haben bei BBH-Partner Matthias Albrecht nachgefragt, der die Landeshauptstadt Stuttgart in diesem Rechtsstreit vertreten hat.

BBH-Blog: Sehr geehrter Herr Albrecht, warum hat das Oberlandesgericht das Urteil als Patt bezeichnet? Der Widerklageantrag der EnBW ist doch abgewiesen worden und die Landeshauptstadt Stuttgart hat sich zumindest mit einem ihrer Hilfsanträge durchgesetzt.

Albrecht: Die Bezeichnung als Patt bezieht sich nicht auf die juristische Argumentation. Die EnBW konnte das OLG Stuttgart mit ihrer juristischen Argumentation nicht überzeugen. Die Landeshauptstadt Stuttgart hat sich zumindest mit ihrer Auffassung durchgesetzt, dass ein Anspruch auf Beseitigung der Störung ihres Eigentums an den Straßengrundstücken besteht. Die Frage ist aber, was die Stadt mit dieser Feststellung tatsächlich anfangen kann.

BBH-Blog: Sie kann verlangen, dass die EnBW das Fernwärmenetz aus den Straßengrundstücken entfernt?

Albrecht: Das könnte sie nach Auffassung des OLG Stuttgart tun. Das will die Stadt aber nicht, weil das Fernwärmenetz in Stuttgart für die Wärmeversorgung mehrerer tausend Wohnungen und Unternehmen benötigt wird. Die Stadt hat der EnBW auch bereits eine Alternative zur Entfernung des Netzes angeboten. Sie kann das Netz übereignen und die Stadt wäre auch bereit, für das Netz einen angemessenen Kaufpreis zu bezahlen. Die Stadt könnte die EnBW auf der Grundlage des Urteils sogar zwingen zu entscheiden, ob sie das Netz aus den Wegegrundstücken entfernen möchte oder ob sie es an die Stadt verkaufen will. Vermutlich wird sich die EnBW in diesem Fall für einen Verkauf entscheiden.

BBH-Blog: Dann bekommt die Stadt doch, was sie möchte?

Albrecht: Das könnte sein. Wir befürchten aber, dass die EnBW das Fernwärmenetz zu einem völlig überhöhten Kaufpreis anbieten wird. So hat sie es beim Wasserversorgungsnetz getan. Nach dem Urteil des Oberlandesgerichts kann die Stadt nicht verlangen, dass die EnBW das Netz für einen angemessenen Kaufpreis anbietet. Fordert die EnBW einen überhöhten Kaufpreis für das Fernwärmenetz, kann die Stadt nur die Entfernung des Netzes erzwingen. Das will sie aber nicht. Insofern führt das Urteil in eine Sackgasse oder zu einer ewigen Hängepartie, wie die Verhandlungen über das Wasserversorgungsnetz in Stuttgart zeigen.

BBH-Blog: Hat der Gemeinderat der Stadt deshalb entschieden, eine Revision beim Bundesgerichtshof einzulegen?

Albrecht: Zunächst eine Nichtzulassungsbeschwerde, weil das Oberlandesgericht die Revision nicht zugelassen hat.

BBH-Blog: Geht die Stadt damit nicht ein großes Risiko ein? Der BGH könnte doch auch der EnBW Recht geben?

Albrecht: Die EnBW hat auch eine Nichtzulassungsbeschwerde eingereicht. Außerdem sind wir davon überzeugt, dass der BGH dem Widerklageantrag der EnBW nicht folgen wird. Die EnBW meint, das Kartellrecht würde zu ihren Gunsten einen Anspruch auf die erneute Einräumung eines Wegenutzungsrechts begründen. Dabei würde es sich um einen gesetzlichen Anspruch handeln, den die EnBW immer wieder neu geltend machen könnte. Faktisch hat die EnBW also ein ewiges Wegenutzungsrecht begehrt. Die Wegenutzungsrechte sind die Grundlage für die Monopolstellungen der Fernwärmeversorgungsunternehmen beim Wärmetransport und die überragenden Marktstellungen bei der Wärmeversorgung. Faktisch hat die EnBW also geltend gemacht, das Kartellrecht würde einen Anspruch auf ewigen Monopolstellungen begründen. Das ist absurd.

BBH-Blog: Sind die Erfolgsaussichten der Landeshauptstadt Stuttgart besser?

Albrecht: Davon sind wir überzeugt. Ob der BGH dem Hauptantrag der Landeshauptstadt Stuttgart folgt, ist allerdings unsicher. Dazu müsste er seine Rechtsprechung aus dem Jahre 2005 zur Scheinbestandteilseigenschaft von Leitungsnetzen ändern. Dafür gibt es unseres Erachtens gute Gründe, weil der BGH mit dieser Rechtsprechung nur in Bezug auf Leitungsnetze von einem Leitgedanken des BGB abgewichen ist. Der Streit um das Stuttgarter Fernwärmenetz zeigt, dass das nicht in jedem Fall zu angemessenen Ergebnissen führt. Es wäre aber natürlich vermessen, davon auszugehen, dass der BGH seine Rechtsprechung ändert.

Wir meinen aber, dass auch ein Eigentumsübertragungsanspruch der Stadt besteht. Das hat das Oberlandesgericht Frankfurt Main im Jahre 1999 in einem vergleichbaren Fall angenommen. Außerdem meinen wir, dass sich der vom OLG Stuttgart bestätigte Beseitigunganspruch der Landeshauptstadt Stuttgart aus § 1004 BGB auf einen Eigentumsübertragungsanspruch reduziert, wenn die einzige Alternative, nämlich die Entfernung des Netzes aus den Straßengrundstücken, unsinnig ist.

BBH-Blog: Sehr geehrter Herr Albrecht, herzlichen Dank für das Gespräch.

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