Die Fünf von der Tankstelle
Unlängst berichteten die Medien über einen Rentner, der beim Streit über die hohen Benzinpreise noch an der Zapfsäule einen Herzinfarkt erlitt. Weniger letale Folgen hatte die Sektoruntersuchung Kraftstoffe vom Mai 2011 des Bundeskartellamtes (BKartA), in der es die Marktstrukturen und die Wettbewerbssituation herausgearbeitet hat. In der Untersuchung geht es um die in der Presse gebetsmühlenhaft wiederholten Vorwürfe, dass die Tankstellenpreise zwischen den Mineralölunternehmen abgesprochen seien, vor den Ferien und/oder Feiertagen höher seien, stets steigen würden, obwohl der Rohölpreis unverändert ist und schließlich, dass der Freitag der teuerste Tag der Woche sei. Jeder weiß etwas dazu zu sagen, Sachkunde ist hingegen weniger verbreitet.
Die kartellrechtliche Analyse ist komplex. Autobahntankstellen und Straßentankstellen sind unterschiedliche Märkte. Erstere verlangen höhere Preise und setzen mehr Kraftstoff um. Straßentankstellen zerfallen wiederum in regionale Märkte, da niemand aus Klanxbüll auf die Idee käme, in Waldshut-Tiengen zu tanken. Insgesamt fünf vertikal integrierte Mineralölunternehmen bilden ein Oligopol auf den Tankstellenmärkten. Die Wirkungsweise dieses Oligopols ist die Wurzel aller Diskussionen. Im Oligopol nehmen die Oligopolisten aufeinander Rücksicht, es fehlt der Binnenwettbewerb, mithin herrscht eine „Reaktionsverbundenheit“ der Teilnehmer. Veranlasst wird dies durch eine hohe Markttransparenz auf den Tankstellenmärkten. Auch wenn die Hersteller dies gerne anders sehen, ist Kraftstoff ein homogenes Gut. Der Spielraum für Produktinnovationen ist gering, so dass der Preis der wesentliche Wettbewerbsparameter ist. Gerade diesen können die Wettbewerber schnell in Erfahrung bringen, da die Kraftstoffpreise für jeden erkennbar ausgezeichnet sind. Dies schreibt übrigens § 8 PAngV vor, wonach die Kraftstoffpreise an den Straßentankstellen so auszuzeichnen sind, dass sie für den heranfahrenden Kraftfahrer deutlich erkennbar sind. Hat man die Reaktionsverbundenheit als Folge eines Oligopols hinzunehmen oder deutet diese auf eine verbotene Verhaltensabstimmung hin?
Die öffentliche Meinung und die Presse mutmaßen immer wieder, dass sich die großen Mineralölkonzerne „bei den Preisen absprechen“. Das ist einfacher in den Raum geworfen als in eine juristische Form gezwängt. Verboten sind abgestimmte Verhaltensweisen. Diese verlangen nach der Rechtsprechung mindestens einen irgendwie gearteten Kontakt zwischen zwei Unternehmen, eine sog. „Fühlungnahme“, die zu einem Klima gegenseitiger Gewissheit führt. Die Marktmerkmale auf den Tankstellenmärkten sind dazu geeignet, eine „Fühlungnahme“ zu ersetzen. Da die Kraftstoffpreise jederzeit deutlich ausgezeichnet sind, die Kosten und die Steuerlast transparent sind, können die Anbieter jederzeit beobachten, wie sich der Preis entwickelt. Offenbar hat sich in den letzten Jahren ein Klima gegenseitiger Gewissheit eingependelt, da bestimmte Unternehmen bei den Preiserhöhungen vorangehen und andere dem folgen. Dies hat das BKartA in der Sektoruntersuchung ermittelt. Zwei Unternehmen bilden die Preisführer. Ein Preisführer zieht binnen drei Stunden einer Preiserhöhung des anderen nach, nach fünf Stunden folgen die anderen Anbieter – ein verblüffend zeitgenaues Ritual. Während auf Wettbewerbsmärkten die Anbieter nicht wissen, ob einer der Wettbewerber bei einer Preiserhöhung mitzieht, ist dies auf einem oligopolistischen Markt anders. Jeder kann das Verhalten des anderen Anbieters vorhersehen und weiß, dass er sich keiner Preisvorstöße versehen muss.
Gleichwohl kann man dieses Verhalten kartellrechtlich kaum sanktionieren. Eine verbotene Verhaltensabstimmung lässt sich nicht nachweisen. Man hat versucht, diese Fälle mit dem Schlagwort „Abstimmung über den Markt“ zu erfassen. In der Tat ist der Markt für die Anbieter derart transparent, dass eine „Fühlungnahme“ entbehrlich sein mag. Gleichwohl ist eine Abstimmung über den Markt keine verbotene Verhaltensabstimmung. Dies folgt aus einer pragmatischen Erwägung: Was will man bei einer Abstimmung über den Markt verbieten? Sollen es die Marktbedingungen sein oder leistet gar § 8 PAngV der uniformen Preisbildung Vorschub? Eine gemeinsame Preisbildung ließe sich daher allenfalls als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auffassen. Indes: nicht alles, was man als anstößig oder unanständig empfindet, ist auch missbräuchlich. Bis zur Grenze des Preismissbrauchs dürfen Unternehmen die Preise erhöhen. Von dieser Schwelle sind die Benzinpreise noch entfernt.
Wie löst man nun das Problem? Am einfachsten wäre die Lösung, das Oligopol aufzuheben, mithin zu „zerschlagen“. Im amerikanischen Recht ist dies möglich, hingegen nicht nach deutschem Recht. Das Oligopol hat man hinzunehmen. Bestimmte Ökonomen mit starkem Einfluss auf die deutsche Kartellrechtspraxis betrachten Oligopole – allerdings weite Oligopole – sogar als besonders günstige Marktstrukturen für funktionsfähigen Wettbewerb. Die Preisbildung als solche ist mit kartellrechtlichen Mitteln nicht angreifbar. Daher bleibt nur der Ruf nach dem Gesetzgeber. Dessen Interesse einzugreifen, dürfte sich in Grenzen halten. Die Mineralölsteuer steigt mit steigenden Benzinpreisen. Wer verzichtet gerne auf Einnahmen? Dabei wäre eine „kreative“ Steuergestaltung ein erster Ansatz, um die uniforme Preisbildung aufzuweichen. Wenn sich die „Spieler“ des Oligopols auf ein gegenseitiges Marktverhalten eingestellt haben, liegt es nahe, die Spielregeln zu verändern. Zu viel Markttransparenz schadet offenbar, so dass etwas Intransparenz hilft.
Das haben die Amerikaner übrigens schon 1940 erkannt. John Maurice Clark postulierte damals bereits, dass auf Märkten, die nicht perfekt funktionieren, das Hinzutreten weiterer „remedial imperfections“ dem Wettbewerb förderlich sein kann. Eine kreative Lösung des Gesetzgebers wäre damit wettbewerbspolitisch legitimiert. In Österreich und Westaustralien darf der Preis nur einmal am Tag erhöht werden, dafür aber beliebig gesenkt. Ob diese Lösung in Deutschland hilft, ist aber zweifelhaft. Die Reaktionsverbundenheit der Oligopolisten lässt sich dadurch nicht beseitigen, da sich nach wie vor der jeweilige Anbieter sicher sein kann, dass die übrigen nachziehen. Man muss mithin diese Gewissheit beseitigen.
Im Ergebnis läuft dies auf einen Eingriff in die Preisbildungsfreiheit hinaus. Die groben Umrisse einer Lösung könnten wie folgt aussehen: Das regelmäßige Nachziehen bei den Preisen sollte sanktioniert werden. Nicht die Erhöhung erweckt das wettbewerbspolitische Odium, sondern die „ritualisierten zeitlichen Abstände“, in denen andere nachziehen. Stellt sich eine „Regelmäßigkeit“ heraus, schließt sich mithin ein Oligopolist mindestens zweimal in einem bestimmten Zeitraum einer Preiserhöhung an, so muss er seine Preise für einen bestimmten Zeitraum einfrieren. Über die Regelmäßigkeit müsste man diskutieren und ebenso über die Dauer des Zeitraums. Manchmal kann die unsichtbare Hand des Wettbewerbs nur wirken, indem sie durch die mit einem Boxhandschuh bestückte Hand der Ordnungspolitik unterstützt wird.
Ansprechpartner: Dr. Christian Jung