Die Europäische Kommission und ihr Traum vom sicheren Atomstrom

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Die Europäische Kommission sieht nach wie vor auch für Atomstrom eine Zukunft. Das ist spätestens seit der im Dezember letzten Jahres veröffentlichten „Roadmap 2050“ kein Geheimnis mehr. Darin wird – je nach Szenario – teils ein Anteil von 18 Prozent Atomstrom an der gesamten Stromversorgung in 2050 angenommen, was verglichen mit den heutigen 14 Prozent sogar einen Anstieg bedeuten würde. Auch weist die Kommission immer wieder darauf hin, dass dieser Anteil je nachdem, wie sich die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden, sogar höher sein könnte.

Nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima hat sich Europa auf die Fahne geschrieben, die 134 Reaktoren in Europa sicher zu machen. Die sogenannten „Stresstests“, die zunächst von den Mitgliedsstaaten selbst durchzuführen waren, wurden dabei begleitet durch Bewertungen auf Europäischer Ebene. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen werden gerade innerhalb der Kommission verarbeitet. Mit einer Mitteilung, gefolgt von Gesetzesvorschlägen, ist in Kürze zu rechnen.

Allerdings sind die Atomkraftwerke Europas bei weitem nicht so sicher, wie man es gerne glauben machen würde. Und daran kann die EU-Kommission nichts ändern, wie der jüngste schwere Zwischenfall in Belgien zeigt, wo der Reaktor 3 des AKW Doel bei Antwerpen stillgelegt wurde, nachdem man Risse festgestellt hatte. „Es ist die Aufgabe der nationalen Behörden und nicht unsere, zu handeln, eine Anlage zu schließen oder die Technik zu verbessern.“, so damals eine Sprecherin der Kommission. Und in der Tat, die Sicherheit der AKWs ist allein Sache der Mitgliedsstaaten: Im Rahmen des EURATOM-Vertrages legen die Mitgliedsstaaten selbst die geeigneten Rechts- und Verwaltungsnormen fest – unter Beachtung der im Vertrag vorgegebenen Ziele und Grundnormen.

Unlängst berichteten große Tageszeitungen, dass Energiekommissar Oettinger Sicherheitsmaßnahmen zwischen 30 und 200 Millionen Euro pro Reaktor vorschweben – hochgerechnet zwischen 10 und 25 Milliarden EU-weit. Jedoch ließ der deutsche Umweltminister Altmaier bereits verlauten, dass man die Reaktoren mit geringer Laufzeit nicht mehr nachrüsten wolle. Der Verband der europäischen Stromversorger schimpfte, dass die Stresstest-Ergebnisse „übertrieben und unausgeglichen“ seien.

Nun, mit 111 Reaktoren in 47 AKWs in Europa mit Großstädten von mehr als 100.000 Einwohnern im Umkreis von maximal 30 km, sollte man eigentlich meinen, dass zu viel Sicherheit gar nicht geht. Die Belgier mit den beiden Kraftwerken Doel und Tihange, beide in unmittelbarer Stadtnähe von Brüssel, sprechen schon lange von  „Cornflakes“ – weil die so knistern und knacken: Die beiden AKWs versorgten bis vor kurzem das Land mit 55 Prozent des Stroms, wenngleich sie eigentlich bis 2016 vom Netz gehen sollten. Nachdem dann im August tatsächlich mehr als 8.000 kleine Risse im  Reaktor Doel 3 entdeckt wurden, ging dieser dann – vorläufig – vom Netz. „Im Prinzip ist ein kleiner Riss nicht gefährlich, aber unserem Wissen nach sind in Doel 3 zu viele kleine Risse“, sagte der Chef der Atomaufsicht, Willy De Roovere, dazu.

Tihange 3, ein baugleicher Reaktor ca. 80 km von der Deutschen Grenze entfernt, wurde gleichzeitig vorläufig abgeschaltet. Dort gab es zumindest Probleme mit einem Abklingbecken: Schon seit längerer Zeit soll aufgrund von Mikrorissen radioaktives Wasser entweichen. Dieses Wasser müsse dann aufgefangen werden, berichteten deutsche Medien. Die Behörden in Nordrhein-Westfalen forderten entsprechend von Belgien Aufklärung.

Auch Greenpeace hatte schon im August an die Regierungen von Frankreich, Großbritannien und Belgien appelliert, neben Doel 3 und Tihange 2 noch zehn weitere Reaktoren unverzüglich abzuschalten, da die Stresstests deutlich ihre unzureichende Sicherheit zeigten.

Im September führte ein Zwischenfall bei Routinearbeiten im ältesten französischen Reaktor, dem AKW Fessenheim, zu der Ankündigung der französischen Regierung, ihr Wahlversprechen einzuhalten und den Reaktor bis 2016 endgültig abzuschalten, obwohl ein Jahr zuvor noch der damalige Präsident Sarkozy eine Verlängerung der Laufzeit um weitere 10 Jahre angekündigt hatte. Fessenheim war 1977 mit zwei Druckwasserreaktoren ans Netz gegangen, obwohl stets moniert wurde, dass er sich auf einer Erdbebenspalte befindet.

Was die Kommission nun vorschlägt, um die Kraftwerke sicherer zu machen, ist erst einmal, dass die Standards der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) eingehalten und umgesetzt werden. Drastisch scheint dabei vor allem, dass mindestens vier Reaktoren in Europa – dies wird nicht näher spezifiziert –  bei Komplettausfall der Stromversorgung innerhalb von weniger als einer Stunde dem Druck und der Hitze nicht mehr standhalten könnten. Außerdem ist es geradezu Standard, dass Erdbebenmessgeräte fehlen und Mindestschutzgrade nicht berücksichtigt werden, unter anderem auch in Deutschland. Für neue Reaktoren sieht die Kommission dabei allerdings keine Probleme, sofern diese nach dem neuesten Stand der Technik gebaut wurden.  Im Sommer 2014 sollen die Fortschritte in der Umsetzung überprüft werden.

Außerdem hat die Kommission ein besonderes Interesse an der Problematik, welche Folgen ein Flugzeugabsturz nach sich ziehen könnte. Sie hatte dazu im September einen speziellen Workshop organisiert, woran auch die USA und Japan teilnahmen. Vor dem Hintergrund der Terrorismusbedrohung soll auch die Kernmaterialüberwachung besser koordiniert und mit der Thematik der Reaktorsicherheit verlinkt werden.

Auch plant die Kommission, was die Zulässigkeit von Lebensmittelimporten und -vermarktung nach nuklearen Zwischenfällen betrifft, zukünftig schneller und flexibler zu reagieren. Dieser Plan scheint ein wenig peinlich, hatte doch die Kommission nach dem Zwischenfall in Fukushima zunächst die Strahlengrenzwerte für Lebensmittelimporte erhöht und somit Import von beispielsweise Fisch ermöglicht, der in Japan selbst nicht mehr zu verkaufen war. Weil diese Maßnahme auf heftige Kritik stieß, wurde dann knapp drei Wochen später zurückgerudert; die Grenzwerte wurden wieder auf einem niedrigeren Niveau harmonisiert.

Es scheint insgesamt erneut ein janusköpfiges Unterfangen der Kommission zu sein, Sicherheit zu suggerieren sowie deren Erhöhung zu implizieren, obwohl der weitaus größte Anteil des Kraftwerkparks nicht ohne prohibitive Kosten ertüchtigbar ist. Interessant bleibt, ob Betriebsbewilligungen zurückgenommen oder die Einführung erhöhter Ertüchtigungsmaßnahmen zur Auflage gemacht werden müssen, und ob solche Maßnahmen in den einzelnen Ländern gerichtlich eingefordert werden könnten.

Die Kommission ist frohen Mutes, sich auch auf internationaler Ebene aktiv und kontinuierlich für mehr nukleare Sicherheit und eine bessere Kernmaterialüberwachung einsetzen zu können. Immerhin sollen sich alle EU-Bürger absolut sicher sein können, dass Atomstrom „made in Europe“ nach den striktesten Sicherheitsstandards der Welt produziert wird.

Ob die Kommission so allerdings den „Kampf gegen die Cornflakes“ gewinnt und ob wir tatsächlich ein mehr statt weniger Atomstrom erleben werden, sei einstweilig dahingestellt. Ein kompletter Ausstieg aus der Atomenergie bleibt jedenfalls nach wie vor nicht nur eine kostengünstige, sondern auch bestimmt die sicherste Alternative.

Ansprechpartner:  Prof. Christian Held/Dr. Dörte Fouquet/Dr. Olaf Däuper

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