Start-up-Spirit statt Bewahrermentalität – Im Gespräch mit Lars O. Lüke von den Digitalisierungs-Pionieren etventure

(c) etventure

Die Digitalisierung kommt, da hilft kein Wegducken. Und sie wird auch hier bleiben, da hilft kein Aussitzen. Die Digitalisierung ist kein Trend wie gerade der Fidget Spinner, über den man in ein paar Monaten womöglich nur noch irritiertes Kopfschütteln übrig haben wird. Digitalisierung bedeutet: Entweder man macht mit – oder eben nicht. Und macht man nicht mit, bleibt man über kurz oder lang auf der Strecke. Klingt drastisch – und das ist es auch. Lars O. Lüke hat mit etventure schon viele Unternehmen auf dem Weg in die Digitalisierung begleitet. Zwischen 60 und 70 mittelständische und DAX-Unternehmen werden es gewesen sein. In nur sieben Jahren hat sich etventure vom kleinen Start-up zu einem der Digitalisierungsvorreiter entwickelt. Wir haben uns mit Lars O. Lüke, Principal bei etventure, unterhalten. Über digitalisierte Töchter, renitente CEOs und Apps, die die Welt nicht braucht.

BBH-Blog: Sehr geehrter Herr Lüke, zum Thema Digitalisierung gibt es ja mittlerweile diverse Studien. Während z.B. unsere Becker Büttner Held Consulting AG (BBHC) speziell den Energiesektor untersuchte, haben Sie mit etventure die digitale Transformation in Deutschland mit der in den USA verglichen. Im Ergebnis haben deutsche Unternehmen die Bedeutung der Digitalisierung zwar erkannt; entsprechend darauf reagiert wird allerdings vergleichsweise wenig. Anders als in den USA. Warum sind die Deutschen so behäbig?

Lüke: Das hat damit zu tun, dass es einem Großteil der deutschen Unternehmen aus dem Mittelstandstand, aber auch aus dem DAX-Bereich nach wie vor gut geht, teilweise sogar sehr gut. Sie spüren also noch relativ wenig Leidens- und damit auch Handlungsdruck. Die wenigsten CEOs haben in so einer Situation den Weitblick und die Chuzpe, sich der Digitalisierung zu stellen – weil die Transformation unbequem ist, unter Umständen sogar sehr. Dabei gilt: Es ist keine Frage, ob ein Unternehmen mit der Digitalisierung konfrontiert wird, sondern nur zu welchem Zeitpunkt. Und in diesem Zusammenhang muss man sagen, die deutschen Unternehmen hätten gerade jetzt das Kapital und die Ruhe, das strategisch Schritt für Schritt anzugehen, neue Methodiken zu implementieren und einen für die Digitalisierung notwenigen Kulturwandel im Unternehmen anzustoßen. Stattdessen ist in deutschen Unternehmen eine starke Bewahrermentalität vorhanden, was auch nicht weiter verwundert. Die etventure-Studie zeigt, die Risiken werden hierzulande wesentlich stärker diskutiert als die Chancen. Das ist für eine Innovationskultur sicher nicht förderlich. Zu guter Letzt wird Digitalisierung oftmals schlicht in ihrer Komplexität gar nicht erkannt. Die Reaktion ist dann: Bevor ich für etwas, das ich nicht richtig steuern und kontrollieren kann, viel Geld verbrate, lasse ich das lieber erst mal ganz sein.

BBH-Blog: Das klingt, als müssten Sie bei Unternehmen grundsätzlich viel Überzeugungsarbeit leisten?

Lüke: Nicht unbedingt. Wir hatten das Glück, schon sehr früh einige mutige CEOs zu finden, etwa Gisbert Rühl von dem Stahlhändler Klöckner, der gesagt hat: Wir müssen jetzt was tun, sonst gibt es uns in ein paar Jahren nicht mehr. Klöckner gilt heute als eines der B2B-Vorzeigeprojekte im Bezug auf Digitalisierung. Im Anschluss an diese erfolgreichen Projekte haben sich dann auch andere Unternehmen an uns gewandt. Mittlerweile lässt sich aber sagen, dass die Bedeutung der Digitalisierung und die Notwendigkeit, sich darauf einzustellen, auf CEO-Ebene in der Regel erkannt wird. Allerdings gelingt es den hiesigen Unternehmern nicht, dieses Wissen auf die gesamte Kernorganisation zu übertragen und die Mitarbeiter für die Digitalisierung zu motivieren. Man muss an dieser Stelle auf jeden Fall auch festhalten: Ist der CEO nicht Treiber der Digitalisierung, wird sie nicht gelingen. Da können und wollen wir dann auch nicht missionieren.

BBH-Blog: Welche Branchen sind denn ganz akut von der Digitalisierung betroffen?

Lüke: Die gesamte Automobilindustrie mit ihren Zulieferern hat ein massives Problem, da sie vor der disruptiven Veränderung ihres gesamten Geschäftsmodells steht. Vielen Unternehmen steht das Wasser schon jetzt bis zum Hals, aber man hangelt sich von Jahr zu Jahr, obwohl man eigentlich weiß, dass man sich grundlegend verändern müsste. Anbieter von Commodities, also Strom, Gas, Wasser, stehen auch vor großen Problemen, weil sie de facto keine direkte Kundenbeziehung haben, sehr begrenzte Märkte besitzen und recht kleinteilig agieren. Das, was ihnen an Big Data zur Verfügung steht, wird außerdem kaum genutzt. Stattdessen wird versucht, Strom, Gas und Wasser attraktiv und sexy zu machen – das funktioniert aber einfach nicht. Stattdessen müsste man in ganz anderen Geschäftslogiken denken und neue Services überlegen. Da stoßen wir gerade bei Stadtwerken oft auf eine renitente Haltung. Statt eines umfassenden Digitalisierungsprozesses werden dann feigenblattartige Maßnahmen ergriffen, etwa indem man einen Digitalisierungs-Verantwortlichen benennt – im schlimmsten Fall aus der IT-Abteilung – einen Webshop einrichtet oder einen Unternehmens-Account bei Facebook eröffnet.

BBH-Blog: Besonders kleinere Stadtwerke schrecken auch deswegen vor großen Anpassungen zurück, weil damit große Investitionen verbunden wären und die nötigen Skaleneffekte zunächst fehlen. Stattdessen wartet man erst mal ab, was die anderen machen.

Lüke: Grundsätzlich spricht auch nichts dagegen, abzuwarten und dann erfolgreiche Strategien zu adaptieren. Das Problem ist aber: Es gibt zu wenige Stadtwerke, die überhaupt voranschreiten und an denen man sich orientieren könnte. Dabei wäre gerade jetzt die Zeit, sich entweder zu einer gemeinsamen Plattform zusammenzutun oder über neue Services nachzudenken. Im Moment gibt es noch wenig digitale Konkurrenz, das ist eine Riesen-Chance!

BBH-Blog: Sie raten den Unternehmen, immer den Kunden in den Fokus zu stellen, ihn direkt zu fragen, was er eigentlich braucht. Das bedeutet, die eigenen Kunden sollen eine aktive Rolle bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen spielen. Sind die Kunden dafür auch bereit?

Lüke: Der Kunde kann uns immer nur seine Bedürfnisse, seine Schmerzpunkte mitteilen: Was ihn hindert, stört, irritiert, zu langsam oder zu teuer ist. Ein bekanntes Zitat von Henry Ford lautet ja: ‚Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt schnellere Pferde’. Übersetzt heißt das, sie wollten schneller von A nach B kommen. Die Frage ist dann eben als Unternehmer: Verkauft man schnellere Pferde oder investiert man in Autos?

Aus den Bedürfnissen der Kunden extrahieren und synthetisieren wir zusammen mit dem Unternehmen dann echte Lösungsmöglichkeiten, die wir im Anschluss validieren: Versteht der Kunde das? Will der Kunde das überhaupt? Wäre er bereit dafür zu zahlen? Diese Fragen muss man stellen. Der falsche Weg wäre, einen digitalen Arbeitskreis zu gründen, sich drei Monate einzuschließen und dann überzeugt zu sein: Das ist genau das, was der Kunde will. Dann wird ein sechsstelliger Betrag, beispielsweise für eine App ausgegeben, die niemand braucht. So entstehen dann ganze App-Friedhöfe.

BBH-Blog: Eines Ihrer Konzepte, um Unternehmen in die Digitalisierung zu führen, ist es, mit ihnen eine digitale Tochterfirma als „Testlabor“ zu gründen. Warum dieser Umweg?

Lüke: Für uns ist das kein Umweg, sondern der einzig mögliche Weg. Wir beraten große Unternehmen und Konzerne mit zum Teil Milliardenumsätzen mit über 1.000 Mitarbeitern, tradierten Geschäftsmodellen und vielen internen Restriktionen: IT-Sicherheit, Betriebsrat, Compliance-Regeln, Unternehmensleitlinien, um nur einige zu nennen. Und vergessen sie nicht die Bewahrermentalität. Es wäre fatal, diesen Unternehmen zu sagen: Wir verändern jetzt auf einmal alles. In der Konsequenz bedeutet das eben, digitale Lösungen immer außerhalb der gewachsenen Unternehmensstrukturen, in einem ‚geschützten Raum’ zu entwickeln. Diese Tochterfirma soll dann wie ein Start-up völlig uneingeschränkt, aber mit dem Auffangnetz des Mutterkonzerns, kreative Ideen entwickeln und zusammen mit uns so genannte Leuchtturmprojekte schaffen. Mit diesen Projekten zeigt man dann der Kernorganisation die ersten Erfolge, die wiederum einen gewissen Druck bekommt, sich verändern zu müssen, neue Ideen zuzulassen und Stück für Stück Elemente des Testlabors zu adaptieren. Denn wenn der Erfolgsnachweis im Kleinen erbracht werden kann, gelingt es deutlich schneller, Digitallösungen zurück ins Unternehmen zu tragen. Und wir sprechen hier bei der Entwicklungszeit von Wochen statt Monaten! Es geht aber auch darum, im geschützten Raum solche Fehler zu machen, die im alltäglichen Geschäft keinesfalls mehr passieren dürfen. So entsteht digitales Neugeschäft.

BBH-Blog: Sehr geehrter Herr Lüke, ganz herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch!

PS: Sie interessieren sich für Compliance oder IT-Sicherheit? Dann schauen Sie doch auch hier und hier.

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