Pssst, geheim! EuGH verhandelt zum „aufsichtsrechtlichen Geheimnis“
Es war einer der größten Anlageskandale der 2000er-Jahre: wegen millionenschweren Anlagebetrugs und Untreue stand die (insolvente) Phoenix Kapitaldienst GmbH lange in den Schlagzeilen. Etwa 30.000 Anleger sollen aufgrund eines betrügerischen Schneeballsystems um etwa 700 Mio. Euro gebracht worden sein. Und wie oft bei Finanzskandalen: Die Schockwellen sind nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Rechtssystem spürbar. Jetzt wird sich der EuGH aus diesem Anlass mit einer heiklen Frage befassen: Ist auch in solchen Fällen die Aufsichtsbehörde dem Recht des insolventen Unternehmens auf Vertraulichkeitsschutz verpflichtet?
Für die Geschädigten sind die Aussichten, aus der Insolvenzmasse zumindest anteilig die verlorenen Ersparnisse zurückzuerlangen, höchst unsicher. Einer der vielen Geschädigten, Herr B., hatte trotzdem versucht, Unterlagen zu dem insolventen Unternehmen von der Finanzaufsichtsbehörde BaFin zu erhalten, um gegen das betrügerische Wertpapierhandelsunternehmen vorzugehen. Darunter befanden sich Gutachten einer Sonderprüfung, Berichte von Wirtschaftsprüfern sowie interne Stellungnahmen, Berichte und Korrespondenz – eben normaler Akteninhalt. Doch das ist leichter gesagt als getan: Schließlich müssen (schon von Verfassungs wegen) Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen, ob insolvent oder nicht, stets vertraulich behandelt werden. Die BaFin lehnte mit dieser Begründung auch den Antrag unseres Herrn B. ab. Dieser ließ nicht locker und erwirkte vor dem Verwaltungsgericht (VG) Frankfurt am Main (Urt. v. 12.3.2008, Az. 7 E 5426/06) die Verpflichtung der BaFin, ihm den Akteninhalten zugänglich zu machen (sowie VGH Hessen, Beschl. v. 28.4.2010, Az. 6 A 1767/08 und VGH Hessen, 12.1.2012, Az. 27 F 1755/10). Man wurde sich dennoch nicht einig, weshalb Herr B. sich an das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig wandte (Az. 7 C 4.14). Da für den Ausgang der Rechtsstreitigkeit aber europäische Normen ausschlaggebend wurden, musste auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) noch zu Rate gezogen werden.
Das höchste Verwaltungsgericht wollte damit in Erfahrung bringen, wie Art. 54 Abs. 1 der damals noch gültigen Richtlinie 2004/39/EG über Märkte für Finanzinstrumente (besser bekannt als, Sie ahnen es, MiFID) zu interpretieren sei (mehr zu MiFID, REMIT und EMIR finden Sie hier). Danach sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die zuständigen Behörden dem Berufsgeheimnis verpflichtet sind und keine „vertraulichen Informationen“ an Behörden oder Dritte weitergeben. Wo aber die Trennlinie zwischen vertraulicher und öffentlicher Information verlaufen soll, bestimmt die Richtlinie (leider) nicht. Am 12.12.2017 hatte der zuständige Generalanwalt am EuGH in seinen Schlussanträgen (Az. C-15/16) dazu Stellung bezogen. Anders als vor den Gerichten hierzulande wird nämlich ein Gerichtsverfahren vor dem EuGH in den meisten Fällen von einem Generalanwalt begleitet (derzeit gibt es elf Generalanwälte am EuGH). Er muss zu der Rechtssache angehört werden und kann in den sog. „Schlussanträgen“ auf die rechtlichen Fragen des Streits eingehen, in denen er auch die aus seiner Sicht richtige Entscheidung vorschlägt. Dieser Vorschlag des Generalanwalts ist im Falle unseren Herrn B. sehr deutlich ausgefallen: aus seiner Sicht handele es sich bei „allen bei einer nationalen Aufsichtsbehörde für die Finanzmärkte angefallenen Informationen, einschließlich Korrespondenz und Äußerungen, über ein beaufsichtigtes Unternehmen unabhängig von weiteren Voraussetzungen“ um „vertrauliche Informationen“.
Das Gericht muss dieser weiten Auslegung des aufsichtsrechtlichen Geheimnisses zwar nicht unbedingt folgen, aber in den meisten Fällen tut es das. In wenigen Monaten ist mit dem Urteil des EuGH zu rechnen. Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Auffassung des Unionsgerichts gebunden und muss sie bei der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften zwingend beachten. Für geschädigte Anspruchsteller und Informationssuchende wäre dies ein Rückschlag, weil ein derart extensives Verständnis von Vertraulichkeit es deutlich schwerer macht, bei Aufsichtsbehörden Informationen einzuholen. Andererseits setzen Integrität und Effizienz eines Finanzsystems selbstverständlich hohe Maßstäbe an Vertraulichkeit voraus. So oder so: gänzlich freigestellt von Informationsansprüchen ist die BaFin freilich nicht, jedoch werden sich voraussichtlich die rechtlichen Grenzen verengen.
Ansprechpartner: Prof. Dr. Ines Zenke/Dr. Christian Dessau